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Energiesparen wird Pflicht

Ohne deutliche Verbrauchsreduzierung droht im Winter eine Versorgungslücke beim Gas

»Wir sollten so viele Gas- und Ölheizungen diesen Sommer durch Wärmepumpen und Holzheizungen ersetzen wie nur möglich. So viele Gebäude dämmen wie nur möglich.« Dieser Rat von Michael Sterner, Energieforscher von der Technischen Hochschule Regensburg, stammt vom März – gehört wurde er freilich nicht von den staatlichen Stellen, obwohl damit sehr viel Gas eingespart würde.

Dies ist notwendig, da niemand weiß, wieviel Russland im Winter liefern wird. »Eine Gasmangellage kann nur durch deutliche Einsparungen, ausreichende Einspeicherungen und zusätzliche Lieferungen verhindert werden«, heißt es bei der Bundesnetzagentur. Experten der Behörde haben drei Szenarien mit russischen Importmengen von 0, 20 und 40 Prozent der Kapazität von Nordstream 1 durchgerechnet. In der Extremvariante würden ab November für den Winter 366 Terawattsunden (TWh) Gas fehlen, was etwa einem Drittel des gesamten Jahresbedarfs entspräche. Im besten Szenario käme man mit einer Verbrauchsreduktion von 20 Prozent und hohen Speicherständen gut durch diesen und auch den nächsten Winter.

Mit weniger Einsparung bräuchte es demnach noch mehr zusätzliche Importe, die aufgrund der aktuellen Mondpreise das Erdgas schon jetzt so extrem teuer machen. Verbrauchsreduzierung senkt daher die individuelle Rechnung von Privathaushalten, Unternehmen oder Kommunen und würde auch den Gaspreis senken. Energieexperten waren deshalb verwundert, dass die Politik das Thema lange Zeit hinten anstellte und sich vor allem um neue Lieferquellen und LNG-Infrastruktur bemühte. Mitte Juni stellte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eine Plakataktion zum Energiesparen vor, die dem Ernst der Lage nicht gerecht wurde. Erst Vorgaben der EU sorgten für Bewegung. Vor einer Woche beschloss das Kabinett zwei Einsparverordnungen. Am Donnerstag trat eine davon in Kraft, die niedrigere Temperaturen und weniger Außenbeleuchtung an öffentlichen Gebäuden vorsieht. Der Einzelhandel muss Ladentüren geschlossen halten, das Beheizen von privaten Pools wird verboten, die Mindesttemperatur für Büros wird um ein auf 19 Grad gesenkt, während Mieter bisherige Mindesttemperaturen unterschreiten dürfen. Im Oktober wird noch die Optimierung von Gasheizungsanlagen verpflichtend. Sieben Millionen gibt es davon.

In Misskredit gebracht wurde das Sparen durch diverse Ratschläge von Politikern wie des Ländle-Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der den Waschlappen als Alternative zur Dusche anpries. Dabei gingen viele Verbraucher schnell und mit Ernst an die Sache heran. Die Verbraucherzentralen berichten von sehr hoher Nachfrage nach Energiesparberatung. In Privatgesprächen tauscht man sich über Einsparpraktiken aus. Viele sind sich bewusst, dass man bisher etwas verschwenderisch mit Energie umging. Bereits im ersten Halbjahr registrierte der Energiebranchenverband BDEW einen Verbrauchsrückgang beim Gas um knapp 15 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, was aber etwa zur Hälfte auf mildere Temperaturen zurückzuführen war.

»Wir sehen jetzt nennenswerte Einsparungen in der Industrie«, teilte kürzlich Netzagenturchef Klaus Müller mit. Dieser Bereich, der Gas vor allem für Prozesswärme nutzt, hatte 2021 mit 37 Prozent den größten Anteil am deutschen Verbrauch, gefolgt von Privathaushalten (31 Prozent), Dienstleistungen und Stromsektor. Einige Unternehmen haben auf andere Energieträger umgestellt, andere drosseln die Produktion. Das Stahlwerk in Eisenhüttenstadt hat für Teile der Belegschaft Kurzarbeit angemeldet, die Stickstoffwerke Piesteritz wollen dies spätestens im Oktober tun. Der Chemieriese BASF bereitet als größter Einzelverbraucher Produktionsstillegungen vor. Die erleichterten Kurzarbeitsregelungen aus der Corona-Zeit, die noch bis Ende September gültig sind, werden laut Regierung weiter verlängert. Arbeitsmarktexperten fordern aber weniger Bürokratie: »Bei gravierenden Schocks könnte man Sonderregeln für massenhafte Nutzung vorsehen«, so Enzo Weber vom Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit.

Außerdem tritt am 1. Oktober eine Auktionsregel in Kraft: Industrielle Verbraucher bieten Gas, auf das sie verzichten können, zu einem bestimmten Preis an, wobei das niedrigste Angebot vom Staat den Zuschlag erhält. Dies soll dazu führen, dass dort Gas eingespart wird, wo dies den geringsten Schaden anrichtet. Sollte das alles nicht reichen, um die Lücke zu schließen, geht es ans Eingemachte: Die Bundesnetzagentur erarbeitet eine Liste mit nicht systemrelevanten Betrieben, die dann kein Gas mehr bekommen. Der Druck ist groß, denn es drohen Kurzarbeit, Produktionsverlagerungen bis hin zu Firmenschließungen, wodurch sehr viele Jobs auf dem Spiel stehen könnten. Privathaushalte sowie Gesundheits- und Sozialeinrichtungen bleiben bei der Gaszuteilung priorisiert.

Industrieunternehmen reagieren auf die Preisanstiege, die diese viel früher spüren als Wohnungsbesitzer und diese wiederum früher als Mieter. Der hohe Preis kommt Minister Habeck angesichts der angespannten Versorgungslage durchaus gelegen, wie er durchblicken lässt. Vielen kommt dies zynisch vor, wenn neben Firmen auch Menschen mit echten Existenzsorgen zum Objekt ökonomischen Kalküls werden. Immerhin haben sich die Preise etwa verdoppelt, vereinzelt sogar verfünffacht.

Dadurch entsteht ein Konflikt: Da die Gaspreise für viele nicht bezahlbar sind, müssen sie gesenkt werden – dies darf aber nicht die Bereitschaft zum Sparen aushebeln. Verschiedene Vorschläge versuchen den Spagat: ein günstiger Gas-Grundbedarf, der Mehrverbraucher zum Sparen anregt, staatliche Zuschüsse für das Einsparen von Energie oder ein hohes monatliches Energiegeld für alle bis zur unteren Mittelschicht – wer beim Gasverbrauch spart, kann das Geld anderweitig nutzen.

Klar ist nur, dass große Mengen einzusparen sind, ohne dass jemand friert: »Das Ziel muss sein, dass jedes Unternehmen, jeder Gebäudeeigentümer, jede Heizkesselbetreiberin im nächsten Winter 25 Prozent Gas einspart«, sagt Martin Pehnt vom Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg. »Dabei dürfen die Kundinnen und Kunden nicht allein gelassen werden.« Ein staatlich finanzierter, kostenloser Sparcheck für alle Heizungsbetreiber, verbunden mit kleineren technischen Maßnahmen, könnten den Verbrauch allein um zehn Prozent senken.

Klimaschützer begrüßen derweil, dass Energieeffizienz als zweites Standbein der Energiewende endlich in den Blick gerät. Sie befürchten aber, dass Ad-hoc-Sparmaßnahmen uns über den Winter helfen sollen und das Thema danach wieder vergessen wird. Zahlreiche Umweltverbände fordern nun in einem gemeinsamen Appell einen »Rechtsrahmen mit verbindlichen Energieeffizienzzielen für die Jahre 2025, 2030, 2035, 2040 und 2045«. Es brauche »Energiesparziele für die öffentliche Hand, Informations- und Energiesparverpflichtungen für Energieunternehmen sowie Umsetzungspflichten für wirtschaftliche Effizienzmaßnahmen in Unternehmen«, heißt es darin.

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