- Politik
- Janine Wissler im Interview
»Wir müssen den Kampf offensiv führen«
Linke-Vorsitzende Janine Wissler über den anstehenden heißen Herbst und die Abgrenzung gegen rechts
Sie haben als Reaktion auf die Agenda 2010 von Gerhard Schröder im Jahr 2004 die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) mitgegründet, aus der später zusammen mit der PDS die Linkspartei hervorging. Können Sie sich noch an die Stimmung auf den Hartz-IV-Protesten und den damaligen Montagsdemos erinnern?
Daran kann ich mich noch gut erinnern. Der Unmut war sehr groß. Viele Menschen empfanden die Einführung von Hartz IV durch die rot-grüne Bundesregierung als zutiefst ungerecht und demütigend. Menschen, die 20 oder 30 Jahre lang gearbeitet hatten, bevor sie erwerbslos wurden, mussten sich plötzlich vor dem Jobcenter nackig machen und einen Ein-Euro-Job annehmen. Das führte zu viel Verzweiflung, aber auch Mut. Viele Menschen gingen damals zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Straße. Das war ein sehr breiter und vielfältiger Protest.
Janine Wissler ist seit Februar 2021 Co-Vorsitzende der Linkspartei. Bis April 2022 leitete sie die Partei zusammen mit Susanne Hennig-Wellsow, seit Juni zusammen mit Martin Schirdewan. Simon Poelchau sprach mit der aus Hessen stammenden Politikerin über die anstehenden Sozialproteste gegen die Politik der Bundesregierung in der Inflationskrise.
Trotzdem blieben die Proteste erfolglos. Schröder führte die Agenda 2010 damals ohne Wenn und Aber ein.
Ich würde nicht sagen, dass die Hartz-IV-Proteste damals gar nichts bewirkt haben.
Warum?
Ohne die Proteste hätte es womöglich noch ein Hartz V oder VI mit noch schärferen Einschnitten in den Sozialstaat gegeben. Noch weitergehende Pläne lagen damals ja in den Schubladen. Auch hätte sich ohne die Proteste vermutlich nicht einige Jahre später Die Linke gegründet. Ob es ohne unseren Druck heute einen Mindestlohn gäbe, kann man auch bezweifeln.
Glauben Sie, dass die anstehenden Sozialproteste wegen der hohen Inflation das Potential haben, so groß zu werden wie die Anti-Hartz-IV-Proteste?
Das hängt von der Politik der Bundesregierung ab. Sie hat alle Möglichkeiten, soziale Härten abzumildern, direkte Entlastungen zu schaffen, Preise zu deckeln sowie Zwangsräumungen und Gassperren zu verbieten. Doch momentan schaut es so aus, dass sie mit der Gasumlage lieber gutverdienenden Energiekonzernen Geld hinterherwerfen will auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher und es Druck von unten braucht, damit sich daran etwas ändert.
Ihre Partei ruft für den 17. September zu einem dezentralen Aktionstag auf. Wer ist der Hauptgegner bei diesen Protesten: die FDP mit Bundesfinanzminister Christian Lindner, der weitere Entlastungen verhindern will, oder auch Grüne und SPD, die mit in der Koalition sind?
Wir kritisieren die Bundesregierung und die besteht bekanntlich aus drei Parteien. Die FDP ist der deutlich kleinste Partner in der Koalition. Wenn die SPD nun Maßnahmen vorschlägt, die wir schon lange fordern, freut mich das zwar, aber man muss sie an ihren Taten und nicht ihren Worten messen. Die SPD stellt mit Olaf Scholz den Kanzler und die Grünen stellen mit Robert Habeck den Vizekanzler. Die beiden Parteien können sich also nicht hinter der FDP verstecken.
Wenn die SPD jetzt wie Sie eine Übergewinnsteuer und einen Gaspreisdeckel fordert, müsste Ihre Partei die Forderungen dann nicht nachschärfen?
Was die SPD aktuell vorschlägt, sind zum Teil Maßnahmen, die kurzfristig helfen würden. Sie bekämpfen aber nur die Symptome, nur die schlimmsten Auswirkungen einer verfehlten Energiepolitik und einer zunehmenden sozialen Spaltung. Bereits im vergangenen Jahr lebten hierzulande fast 14 Millionen Menschen in Armut. Das sind 16,6 Prozent der Bevölkerung. Die Inflation wird diese Spaltung weiter verschärfen. Deswegen braucht es nicht nur kurzfristige Maßnahmen, sondern grundlegende gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen und eine Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums zum Beispiel durch eine Vermögensteuer und eine einmalige Vermögensabgabe.
Im Fall des angeschlagenen Energiekonzerns Uniper haben die Gewerkschaften Verdi und IG BCE gefordert, dass der Staat die Mehrheit übernehmen soll. Ist das eine Forderung, die Sie auch unterschreiben können?
Ja. Wenn man einen Energiekonzern wie Uniper mit Milliarden rettet, muss es Arbeitsplatzgarantien und Mitspracherechte geben. Das haben wir auch schon während der Coronakrise bei der Rettung der Lufthansa gefordert. Energieversorgung gehört grundsätzlich in die öffentliche Hand und unter demokratische Kontrolle – im Sinne einer sozialen Preisgestaltung und einer ökologischen Energieerzeugung.
Vor einigen Tagen gab es eine Demonstration, die die Enteignung von RWE forderte. Sie könnten sich also auch mit solch weitergehenden Forderungen anfreunden?
Ja, die Energieversorgung gehört in die öffentliche Hand. Kommunen und Stadtwerke müssen gestärkt werden. Das wäre eine Riesenchance für die Energiewende. Die Probleme mit der Gasknappheit sind die Folge einer verfehlten Energiepolitik. Statt eine dezentrale Energiewende voranzutreiben, wurde zu lange auf große, fossile Kraftwerke gesetzt. Wenn es jetzt zu einer Renaissance der Kohle kommt, wird das den Klimawandel noch verschärfen.
Dass die Energiepreise jetzt steigen, halten Ihre Genossen Klaus Ernst und Sahra Wagenknecht für eine Folge der Sanktionen gegen Russland infolge des Angriffs auf die Ukraine und fordern deshalb die Inbetriebnahme von Nord Stream 2.
Zu Nord Stream 2 hat Die Linke eine klare Beschlusslage. Da erwarte ich, dass Abgeordnete, die zu diesem Thema für Die Linke sprechen, die demokratisch beschlossenen Positionen der Partei vertreten. Außerdem würde eine Inbetriebnahme von Nord Stream 2 nichts an der gegenwärtigen Lage ändern. Es gibt kein Gas-Embargo gegen Russland und es gibt auch keine Probleme bei der Gas-Infrastruktur. Es fließt derzeit kaum noch Gas, weil Russland die Lieferungen gedrosselt hat und das Gas zum Teil verfeuert. Ob zu wenig Gas durch eine Pipeline fließt oder durch zwei, ändert nichts an der Mangellage. Dass die Preise explodieren, liegt an der Verknappung und der Spekulation.
Nicht nur Ernst und Wagenknecht fordern die Inbetriebnahme von Nord Stream 2, sondern auch die AfD. Ist es nicht ein Problem für die kommenden Proteste, wenn prominente Linke-Politiker dasselbe fordern wie Rechte?
Die Bundesregierung könnte die Folgen der Preissteigerungen ausgleichen. Deutschland ist eine der reichsten Volkswirtschaften der Welt. Den Menschen, die unter hohen Preisen ächzen, würde nicht die Öffnung von Nord Stream 2 helfen, sondern dauerhafte Entlastungen wie 125 Euro im Monat für kleine und mittlere Einkommen und die Weiterführung des 9-Euro-Tickets. Auch die Einführung einer Übergewinnsteuer sowie den Ausbau der erneuerbaren Energien müssen wir einfordern. Das sind alles Forderungen, die die AfD nicht stellt, sondern ablehnt.
Seitens des Verfassungsschutzes wird derzeit eher vor sozialen Protesten von rechts als vor Protesten von links gewarnt. Wie kann eine Abgrenzung gegen rechts gelingen?
Die jetzige Debatte erinnert mich an jene von 2004. Damals waren bei den Hartz-IV-Protesten auch vereinzelt Nazis dabei. Das wurde auch von den Medien aufgegriffen. Hätten wir uns damals zurückgezogen und das Feld den Rechten überlassen, hätte sich 2004 nicht die WASG, sondern vielleicht schon die AfD gegründet. Stattdessen haben wir damals in den Bündnissen deutlich gemacht, dass unsere Solidarität sich nicht an der Nationalität ausrichtet und warum es wichtig ist, sich gegen rechts abzugrenzen.
Und was ist, wenn doch Rechte zu Protesten kommen?
Eine klare inhaltliche Ausrichtung im Vorfeld kann das verhindern oder zumindest erschweren. Wenn trotzdem Rechte kommen, muss es im Vorfeld Vorbereitungen geben, um sicherzustellen, dass rechte Kräfte und rassistische oder antisemitische Parolen nicht toleriert werden.
Sie haben wiederholt gesagt, dass Sie den heißen Herbst zusammen mit den Gewerkschaften organisieren wollen. Doch diese sitzen derzeit mit Bundeskanzler Olaf Scholz und den Arbeitgeberverbänden im Rahmen der konzertierten Aktion an einem Tisch. Ist das nicht ein Problem?
Auch die Gewerkschaften fordern Entlastungen wie einen Gaspreisdeckel und eine Übergewinnsteuer. In Erfurt ruft der DGB für den 11. September zu einer landesweiten Demonstration auf. Als ich am Dienstag in Frankfurt/Oder war, waren der DGB und Verdi mit dabei. Zudem stehen im Herbst wichtige Tarifrunden an. Angesichts der hohen Inflation sind deutliche Lohnerhöhungen nötig. Sozialproteste können gut mit den Arbeitskämpfen verbunden werden. Es geht ja nicht nur um Entlastungsmaßnahmen, sondern um ein dauerhaft höheres Lohnniveau.
Der Linke-Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann ruft für kommende Woche in Leipzig zu einer Montagsdemo auf. In der Linken ist deswegen eine Debatte entbrannt, da viele Menschen Montagsdemos nicht mehr mit den Hartz-IV-Protesten, sondern vor allem mit rechten Aufmärschen von Pegida oder Corona-Leugner*innen verbinden. Wird die Abgrenzung gegen Rechts da nicht schwierig?
Die Genoss*innen in Sachsen und Leipzig werden keine rechten Gruppen, Organisationen oder Transparente dulden. Das haben sie sehr deutlich gemacht. Beim Thema Montagsdemos darf man aber auch nicht vergessen, dass sie auch in der Nachwendezeit eine Tradition haben, die an den meisten Orten nicht rechts geprägt ist. In Stuttgart gibt es seit mehr als zehn Jahren Montagsdemos gegen S21, in Frankfurt am Main gab es sie jahrelang gegen den Flughafenausbau und eben die großen Proteste gegen Hartz IV.
Einige in Ihrer Partei würden statt montags lieber freitags zusammen mit der Klimabewegung Fridays for Future auf die Straße gehen…
Am Ende muss man vor Ort entscheiden, was am sinnvollsten ist. Da ist für mich der Wochentag weniger wichtig als die politische Ausrichtung. Eines dürfen wir aber nicht machen: in der jetzigen Situation, in der Eltern mit Tränen in den Augen ihren Kindern an der Supermarktkasse erklären müssen, dass ein Eis nicht drin ist, den Kopf in den Sand stecken und das Feld den Rechten überlassen. Das wäre Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Wir sind die linke Opposition zur Ampel. Ich will es doch nicht der rassistischen AfD überlassen, den Unmut, den es zurecht gibt, in rechtes Fahrwasser zu lenken. Deswegen müssen wir den Kampf offensiv führen um die Ideen, die Köpfe, die Präsenz auf den Straßen. Nazis und Rechten die Straße zu überlassen, war noch nie eine gute Idee.
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