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Kein Wort zur Hexenverbrennung!
Pippi Langstrumpf, Pommes und Pizza Margherita - das alles ist Christoph Rufs Zufallsbekanntschaft nicht woke genug
Vor kurzem traf ich den alten weißen Mann, der sonst diese Kolumne schreibt. Er berichtete von einem Interview, das er im April mit Lilian Thuram geführt hat, dem Autor von »Das weiße Denken«. Ziemlich einig seien sie sich gewesen, auch darüber, dass Kolonialismus und weißes Überlegenheitsdenken aufgearbeitet gehören. Thuram habe sich aber totgelacht, als er ihm erzählt habe, dass es in Deutschland Menschen wie mich gibt, die nicht hinnehmen werden, wenn Weiße Dreadlocks tragen. »Sie machen Witze«, habe er gesagt. »Die Debatte darf nicht zur Karikatur werden.« Komisch, dass Ruf mich jetzt nach der Sache mit den Karl-May-Büchern angerufen hat und mich bat, die heutige Kolumne zu übernehmen.
Also, Nationalismus lehne ich natürlich total ab, aber im Vergleich zu Thuram haben wir in Deutschland gründlicher nachgedacht. Auch was Essen aus anderen Kulturkreisen angeht – als deutsche Margot einfach eine neapolitanische Pizza Margherita zu essen, ist kulturelle Aneignung. Wenn man das durchdenkt, geht man schon mal hungrig ins Bett. Selbst die deutsche Kartoffel stammt ja aus Südamerika, aber in unserer WG lebt jetzt eine Peruanerin, wenn die kocht, darf ich Pommes essen, ich habe im Plenum nachgefragt. Zu Winnetou: Eine gute Umerziehung muss nun mal pränatal, spätestens aber in der Kita anfangen. Umso wichtiger ist es, auf Social Media permanent die Welle zu machen. Dann ziehen auch renommierte Kinderbuch-Verlage zum Erstaunen von 98 Prozent der Kundschaft ein fertiges Buch zurück. Aus eigener Überzeugung selbstverständlich – und die kann nun auch mal erst dann reifen, wenn die Teile schon gedruckt und ausgeliefert waren. »Winnetou als Kind« kann jetzt aber nur der Anfang sein. Es ist absurd zu behaupten, Romane seien keine historischen Sachbücher. Sie bestehen aus den exakt gleichen 26 Buchstaben, wir haben nachgezählt!
Nehmen wir »Die kleine Hexe«. Schon das Cover strotzt vor Geschlechter- (Kleid) und Reisestereotypen (Besen). Ansonsten zugegebenermaßen eine eher sympathische und selbstbewusste weibliche Hauptperson. Wir müssen, sobald wir in der Sekte, äh Sektion, wieder beschlussfähig sind (Tim ist in Urlaub) überlegen, ob in diesem Fall nicht vielleicht auch die Schwärzung von einem Drittel der Seiten reicht. Vieles muss jedenfalls weg. Denn vom Leid tausender Frauen, die der Hexenverbrennung zum Opfer fielen, ist kein Wort zu lesen. Das ist witch-washing!
Bei »Pippi Langstrumpf« ist es mit dem Schwärzen einzelner Passagen nicht mehr getan: Pippis Äffchen heißt »Herr Nilsson«, das Pferd »Kleiner Onkel«, das sind zwei männliche Tiere! Wen wundert es da noch, dass die Eltern von Annika und Tommy ein Mann und eine Frau sind. Mehr Heteronormativität geht wirklich nicht mehr. Und: Pippi wurde von einer Autorin geschrieben, die das »N-Wort« für den »N-Wort-König« schuf, der nun »Südseekönig« heißt. So etwas vergessen wir nicht, wir vergessen nie etwas. So lange von Astrid Lindgren da kein reuiger Tweet kommt (den ja die meisten, mit denen wir uns anlegen, in Sekundenbruchteilen absondern), ist sie tabu. Dass sie gestorben ist, ist ein erkennbar vorgeschobenes Argument. Merkwürdig, dass es da noch kein englisches Wort dafür gibt. »Deadism« ist aber okay, denke ich. Weitere Beispiele: »Momo« ist die reinste Verklärung von Obdachlosigkeit bei jungen Frauen. Und die »Unendliche Geschichte«: Bastian Balthasar Bux wird gemobbt und leidet unter fatshaming. Doch anstatt eine Klassenstunde einzuberufen (am besten im Deutschunterricht, den habe ich schon als Kind gehasst) und zu vermitteln, dass alle Körper gleich schön sind, reist er nach Fantasien. Ein übler Trick, denn wenn’s um Fantasie geht, ist es besonders schlimm mit der Unsitte, dass jeder einfach denkt und redet, was er gerade so will.
Aber damit ist jetzt Schluss. Die Kinderbücher sind erst der Anfang. Auch Millionen von Erwachsenen lesen Bücher, ohne dass die jemand von uns mit wachem politischem Bewusstsein freigegeben hat! Wir sind wenige, niemand hat uns gewählt, aber dafür haben wir verdammt viel Einfluss. Dass uns außer in Redaktionen und Verlagen keiner versteht, ist uns egal. Denn wir sind die Guten.
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