Chile braucht zweiten Anlauf

Martin Ling über das Nein zur progressiven neuen Verfassung

Es ist eine bittere Niederlage für Chiles Protest- und Demokratiebewegung. Das was im November 2019 seinen Ausgang unter dem Motto »Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre« als Protest gegen eine Fahrpreiserhöhung bei der U-Bahn in der Hauptstadt Santiago begann, ist mit dem Plebiszit vom 4. September fürs Erste gescheitert: die Abschaffung der neoliberalen Verfassung von 1980 aus der Pinochet-Diktatur.

Der Neoliberalismus hat in Chile zurückgeschlagen: 7,8 Millionen Chilen*innen geht die neue, progressive Verfassung zu weit, das sind 3,2 Millionen Stimmen mehr als sie noch zu Jahresbeginn der linksreformistische Gabriel Boric als Sieger bei der Stichwahl um die Präsidentschaft erhalten hatte. 7,8 Millionen Chilen*innen sprachen sich gegen eine Verfassung aus, die so beginnt: »Chile ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat. Er ist plurinational, interkulturell, regional und ökologisch.«

Seit 2019 hatte die progressive Linke einen Wahlsieg nach dem anderen eingeheimst, 80 Prozent stimmten für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, über zwei Drittel der Mitglieder des Verfassungskonvents gingen an die links-progressiven Bewegungen und Parteien. All das bei Wahlbeteiligungen von oft unter 50 Prozent. Beim Verfassungsplebiszit am Sonntag galt nach Jahrzehnten wieder eine Wahlpflicht, die 85 Prozent zur Abstimmung bewegte.

An der mehrheitlichen Ablehnung der Pinochet-Verfassung ändert die Abstimmung nichts. Der zweite Anlauf, den Präsident Boric schon in Aussicht gestellt hat, muss besser klappen. Stand jetzt ist die abgelehnte chilenische Verfassung progressiver als die Wählerschaft und als der Status quo der Gesellschaft ohnehin. Das muss sich ändern.

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