Keine Heimat, keine Hochburg

Giorgia Meloni ist stramm rechts und könnte Ministerpräsidentin in Italien werden. Doch in dem römischen Stadtviertel Garbatella, wo sie aufwuchs, erhält sie wohl keine Mehrheit.

  • Anna Maldini
  • Lesedauer: 8 Min.

Der römische Stadtteil Garbatella wird in beinahe jedem Reiseführer als »historisch« und »malerisch« beschrieben. »Wer Rom näher kennenlernen möchte, sollte in die Stadtteile vordringen, in denen auch Römer leben. Wie zum Beispiel Garbatella«, heißt es in dem Online-Portal »Unterwegs in Rom«. Das Viertel liegt im Süden Roms, zwischen der Via Ostiense und der viel befahrenen Via Cristoforo Colombo. Zwischen der Cestio-Pyramide und der Basilika San Paolo Fuori le Mura. Garbatella wirkt an manchen Ecken geradezu ländlich, was mitten in Rom überraschend ist. »Rosenhecken blühen vor Häuschen mit leicht marodem Charme«, heißt es in dem Fremdenführer. »Hasen hoppeln auf gehegten Rasenflächen. In einigen Straßen ist es unfassbar ruhig, grün und idyllisch. Um die nächste Ecke präsentiert sich das Viertel urban mit reichlich Patina.«

Demnächst könnte das Viertel nicht nur wegen seines maroden Charmes bekannt werden, sondern auch, weil hier Giorgia Meloni aufgewachsen ist, Vorsitzende der rechtsradikalen, ultrakonservativen und neofaschistischen Partei Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) und möglicherweise kommende Ministerpräsidentin des Mittelmeerlandes. In den aktuellen Umfragen liegt die 45-Jährige mit ihrem Mitte-rechts-Block weit vorne.

Viele Reiseführer haben lediglich die architektonischen Schönheiten im Blick, damit Touristen Fassaden bestaunen können. Aber es gibt auch welche, die auf die soziale Zusammensetzung und die politischen Besonderheiten eines Viertels achten. Und Garbatella bietet diesbezüglich eine Besonderheit – der Ursprung des Namens liegt übrigens im Dunkeln, wobei eine der netteren Interpretationen besagt, dass das Wort auf eine hübsche Gastwirtin im Mittelalter zurückgehen soll. Garbatella hat den Ruf, eine ausgesprochen linke Gegend zu sein.

Tatsächlich ist es seit der Gründung vor rund 100 Jahren ein Arbeiterviertel. Das Quartier wurde nach dem Vorbild englischer Gartenstädte gebaut: Die Bauarbeiter, für die es während des Aufschwungs nach dem Ende des Ersten Weltkriegs errichtet wurde, sollten nicht nur angenehme Wohnungen haben, sondern auch Gärten. Zuwanderer vor allem aus den Abruzzen konnten dort Gemüse und Obst anpflanzen. Außerdem waren Gemeinschaftsplätze vorgesehen, mit denen die alten Dorfgemeinschaften nachempfunden wurden. Als Mahatma Gandhi 1931 zu Besuch nach Rom kam, wollte er unbedingt Garbatella besichtigen, das seinerzeit als vorbildlich galt. Gedenktafeln erinnern noch heute an den Besuch des pazifistischen Unabhängigkeitskämpfers. Unter der faschistischen Mussolini-Ära von 1925 bis 1943 wurden in Garbatella große Hotels gebaut, in denen Wanderarbeiter für wenig Geld ein Dach über den Kopf bekommen konnten und dazu auch öffentliche Bäder.

Während des Widerstandskampfes gegen den Faschismus fanden in dem Viertel viele Partisanen Unterschlupf, und nach der Befreiung vom Nazifaschismus war Garbatella eine Hochburg der Kommunistischen Partei. Bei der Parlamentswahl 1948 trat die Demokratische Volksfront, ein Zusammenschluss von Sozialisten und Kommunisten, mit dem Symbol des italienischen Freiheitskämpfers Giuseppe Garibaldi (1807-1882) an. An einer Hauswand sah man noch bis vor Kurzem ein altes Graffito mit den Worten »Wählt Garibaldi. Liste 1«. Eine übereifrige Putzkolonne der Stadt hat es dann vor ein paar Jahren abgewaschen. Inzwischen wurde es restauriert, und jetzt ist es durch eine Glasplatte geschützt.

Man kann sagen, dass Garbatella bis in die frühen 1970er Jahre politisch von den Kommunisten und ihren Verbündeten dominiert wurde. Doch das Viertel wuchs und veränderte sich. Zu den kleinen, menschengerecht gestalteten Häuschen mit den großen grünen Innenhöfen und den Grünflächen kamen vielstöckige Mietblöcke, in die das sogenannte Kleinbürgertum einzog; auch die Kinder der Bauarbeiter von einst hatten andere Bedürfnisse. Das Klima in dem Quartier, aber auch in ganz Italien veränderte sich, es wurde rauer und gewalttätiger. Es war die Zeit der Attentate, des »linken« wie »rechten« Terrorismus.

Mitte der 1980er Jahre zog die damals siebenjährige Giorgia Meloni mit ihrer Familie, also ihrer Mutter und der zwei Jahre älteren Schwester Arianna, nach Garbatella. Der Vater hatte sich mehr oder weniger aus dem Staub gemacht, als das Mädchen ein Jahr alt war. Der Umzug und die Familiengeschichte müssen für das Kind traumatisch gewesen sein. Zumindest erzählt das Giorgia Meloni in ihrer Autobiografie und in unzähligen Interviews, die sie in diesen Tagen gibt. In der Schule habe man sie gemobbt, erzählt sie, weil sie zu dick gewesen sei. Aber daran sei sie gewachsen: »Feinde sind immer nützlich«, meint sie heute, frei nach dem Motto »Viel Feind, viel Ehr«. Voll Wehmut erinnert sie sich an die Kirche in Garbatella, wo sie die Erstkommunion erhielt. Sie erzählt auch, wie sie mit 15 Jahren beschloss, in die Politik zu gehen, nachdem ihre Schwester berichtet hatte, dass sie mit ansehen musste, wie eine »Gruppe von Roten« einen neofaschistischen Aktivisten verprügelte. Ihr Gerechtigkeitssinn habe sie dazu getrieben, sich der neofaschistischen Partei MSI (Movimento Sociale Italiano – Soziale Bewegung Italiens) anzuschließen.

Meloni machte schnell Karriere und gründete bald die Jugendorganisation der Partei in Garbatella. Ihre politische Karriere ging steil bergauf. Die Mehrheit des MSI ging in der weniger faschistisch geprägten neuen Partei Alleanza Nazionale (Nationale Allianz) auf und eine Koalition mit Forza Italia ein. Zwischen 2008 und 2011 war Giorgia Meloni Jugendministerin unter dem damaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Das erwähnt sie heute allerdings nicht mehr, weil sie den Eindruck erwecken will, dass sie nie etwas mit dem »Establishment« zu tun hatte und immer »außerhalb« der herkömmlichen Machtgefüge stand. 2013 gründet sie dann mit anderen ultrarechten Mitstreitern die Partei Fratelli d’Italia (benannt nach der ersten Zeile der italienischen Nationalhymne), deren Leitung sie 2014 übernimmt. Seit September 2020 ist sie außerdem Vorsitzende der rechten Europäischen Konservativen und Reformer im Europaparlament.

Bisher war Meloni vor allem für ein harsches Auftreten bekannt, im Wahlkampf schlägt sie aber moderatere Töne an. Sie betont etwa, dass sie vor einigen Jahren Mutter geworden sei, was »alles verändert« habe. Offenbar arbeitet sie an einem neuen Image. Die Menschen sollen offenbar vergessen, dass sie jahrelang erklärt hat, dass sie und ihre Partei die »wirkliche Familie« verteidige, die aus Mama, Vati und möglichst vielen Kindern besteht. Dabei ist sie selbst nicht verheiratet, und es hält sich das Gerücht, dass sie früher schon mal kurz verheiratet war und jetzt auf die Annullierung ihrer Ehe warte, um den Vater ihrer Tochter kirchlich heiraten zu können. Einer ihrer bekanntesten Auftritte beginnt mit den Worten: »Ich bin Giorgia, ich bin eine Frau, ich bin eine Mutter, ich bin Italienerin, ich bin Christin.« Daraus entstand sogar ein ironischer Rap, den Meloni jetzt in ihrer Wahlkampagne benutzt.

Ihre Aussagen zum Faschismus hängen sehr von dem Publikum ab, vor dem sie gerade spricht. Normalerweise blockt sie gezielte Fragen mit Floskeln ab: »Das ist doch schon so lange her, was habe ich denn damit zu tun!«, ist eine der beliebtesten. Als sie aber vor wenigen Wochen in Spanien vor Vertretern der ultrarechten Partei Vox sprach, sagte sie: »Ja zur natürlichen Familie, nein zu der LGBT-Lobby, ja zur sexuellen Identität, nein zur Gender-Ideologie; ja zur Kultur des Lebens, nein zum Abgrund des Todes.« Sie erntete dafür viel Applaus! In Italien wiederholt sie bis zum Umfallen: Wir stehen auf der Seite derjenigen, die mit ihrem Gehalt nicht bis zum Monatsende kommen! Sie will in der Wahlkampagne nicht allzu radikal erscheinen, das Bürgertum nicht verschrecken und hat sehr darauf geachtet, dass unter den Kandidaten ihrer Partei keine stadtbekannten Faschisten sind, obwohl sie seit ihrer Jugend in Garbatella gute Kontakte auch zu Rechtsradikalen pflegt.

Von den rauen 1980er und 1990er Jahren ist in Garbatella heute nicht mehr viel zu spüren. Geprägt wird das Viertel nun von Studierenden, da die Dritte Universität der italienischen Hauptstadt gleich um die Ecke liegt. Es gibt alternative linke Kulturzentren, die immer gut besucht sind; das Bekannteste ist die »Casetta Rossa« (Rotes Häuschen), wo man Musik hören, interessanten Diskussion folgen und nebenbei essen kann. Auch bei linken Intellektuellen (in Italien nennt man sie »radikal-schick«) ist das Quartier beliebt; der international ausgezeichnete Regisseur Nanni Moretti setzte dem Stadtteil 1993 in seinem Film »Caro Diario« (Liebes Tagebuch) ein Denkmal, in dem er die Straßen mit einer alten Vespa abfuhr.

Politisch schwanken in dem Viertel aber seit den 1990er Jahren die Mehrheiten: 1994 gewann die Silvio-Berlusconi-Partei Forza Italia, 20 Jahre später war die Fünf-Sterne-Bewegung topp. Bei den Wahlen 2018 schlug das Pendel wieder nach links, und der Bezirk wird heute von einer sozialdemokratisch-ökologisch-linken Koalition regiert.

Die Mehrheit der Einwohner wird bei der Parlamentswahl am 25. September wohl nicht für Fratelli d’Italia stimmen. Bekannt wurde ein Fernsehbeitrag des Senders »La 7«, in dem eine Journalistin verzweifelt versucht, in dem Viertel Anhänger von Meloni zu finden. Die Allermeisten, egal ob Männer oder Frauen, jung oder älter, winken mehr oder weniger angewidert ab. Viele erklären aber auch, dass sie in diesem Jahr überhaupt nicht zur Wahl gehen werden. »Wir haben ja nun wirklich schon alles versucht«, sagt zum Beispiel der 19-jährige Student Francesco Dalle Viti, »aber für uns hat sich nie wirklich etwas geändert.« Die Rentnerin Sandra Sanvitale erklärt, Politiker seien doch alle gleich und würden nur an sich selbst denken. Auf die Frage, ob es ihr denn egal wäre, wenn Giorgia Meloni Ministerpräsidentin würde, sagt sie entrüstet: »Garbatella war schon immer links. Mit den Faschisten wollen wir hier nichts zu tun haben.«

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