- Berlin
- NS-Zwangsarbeit
Per App auf den Spuren der Zwangsarbeit
Erinnerungen von Opfern, untermalt mit Musik, können nun überall in Berlin erfahren werden
99 gelbe, über einen Stadtplan von Berlin verteilte Markierungen sind auf dem Handydisplay zu sehen, wenn man die App „Human Commodity – Ware Mensch» öffnet. Klickt man eine von ihnen an, erscheint ein Foto und Musik erklingt. Im Fall des Markers auf der Kreuzberger Oranienstraße 25 ist eine Flötenmelodie zu hören. Dazu gehört das verschwommene Foto eines Gebäudes, eine ehemalige Produktionsstätte der Deuta-Werke. „Wir mussten Metallteile für die Rüstungsindustrie zusammenschrauben. Es war eine harte, eintönige Arbeit. Es gab uns einmal mehr das Gefühl, in einer anderen Welt zu leben, in einer dunkleren Welt», ist darunter zu lesen, ein Zitat der Berliner Jüdin Margot Friedländer, die in der NS-Zeit in der Deuta-Fabrik Zwangsarbeit leisten musste.
Mit dieser neuen, interaktiven App wollen das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Schöneweide und das Musikensemble der Marc Sinan Company Nutzer*innen zeigen, „dass überall in Berlin Zwangsarbeit stattfand», erklärt Roland Borchers, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit, der die Anwendung mit entwickelt hat. 99 ehemalige Zwangsarbeiter*innen und die Orte, an denen sie untergebracht waren oder arbeiten mussten, wurden stellvertretend für alle Opfer der NS-Zwangsarbeit ausgewählt und sollen eine möglichst große Bandbreite an Statusgruppen und Einsatzorten abbilden. Zwischen 1938 und 1945 mussten im Deutschen Reich rund 13 Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten, darunter KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Zivilist*innen aus den besetzten Gebieten. Allein in Berlin arbeiteten etwa 500 000 Menschen in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, von der Industrie über die Verwaltung bis hin zu Kirche und Privathaushalten.
Zu jedem Standort können Briefe oder Tagebucheinträge der jeweiligen Person sowie Behördendokumente gelesen und angehört werden. Der Komponist Marc Sinan, von dem die Idee zu der App stammt, hat auch die Melodien zu den Erinnerungen komponiert. Kunststudierende haben Ansichten der Orte fotografisch festgehalten. „Das ist eines der tollsten Projekte, die ich bislang überhaupt gemacht habe», sagt Roland Borchers. Es soll das Thema vor allem für junge Menschen zugänglich machen. Per Push-Nachricht kann die App Nutzer*innen unterwegs darauf aufmerksam machen, wo sie auf ihren Wegen zur Arbeit oder zum Einkaufen an Orten der Zwangsarbeit vorbeikommen. Eine andere Möglichkeit ist, gezielt einer der sieben Touren zu folgen, zu Fuß, per Fahrrad, Rollstuhl oder S-Bahn.
Ab Samstag ist die App für Android und iPhone verfügbar und soll um 14 Uhr in einem Festakt mit Livemusik, Lesungen und Führungen im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit vorgestellt werden. Eingeladen ist unter anderem die ukrainische Historikerin Olga Ryabchenko, die im Frühjahr nach Berlin geflüchtet ist und nun über ihren Vater Leonid Ryabchenko spricht. Er musste während der NS-Zeit in einer Spandauer Rüstungsfabrik Zwangsarbeit leisten und ist eine der 99 Personen, die in der App vorkommen. Außerdem können sich Besucher*innen sogenannte Sonic Bikes der Klangkünstlerin Kaffe Matthews ausleihen. Das sind Fahrräder, die Musik durch am Lenker angebrachte Boxen abspielen und ergänzend zur App zu Radtouren entlang der Zwangsarbeitsorte einladen.
Ab 17 Uhr werden in der Spreehalle Berlin die Fotos ausgestellt, die jene Orte auf nicht dokumentarische, sondern künstlerische Weise abbilden, „um zu zeigen, dass heute größtenteils nichts mehr darauf hindeutet», erklärt Borchers. Um 18 Uhr gibt es, ebenfalls in der Spreehalle, ein Konzert der Marc Sinan Company, das sich aus sämtlichen musikalischen „Miniaturen» zu den verschiedenen Geschichten der Zwangsarbeiter*innen zusammensetzt.
Anmeldung zum Festakt unter schoeneweide@topographie.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.