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Marschieren gegen Selbstbestimmung
Am Samstag gehen beim »Marsch für das Leben« Abtreibungsgegner auf die Straße – nicht ohne Gegenproteste
Jedes Jahr tragen sie schweigend Kreuze und Plakate durch Berlins Innenstadt. Für diesen Samstag werden wieder Tausende selbst ernannte Lebensschützer*innen beim Marsch für das Leben erwartet. Der erste Marsch fand 2002 statt, damals noch unter dem Namen 1000 Kreuze für das Leben. Seitdem ist die Bewegung gewachsen und hat sich professionalisiert. Bis heute führt die Demonstration 1000 weiße Kreuze mit sich, die symbolisch für die abgetriebenen Föten stehen, um die während der Demonstration getrauert wird.
Der Bundesverband Lebensrecht e.V., der den Marsch für das Leben veranstaltet, setzt sich in seinen eigenen Worten »für umfassende Menschenwürde und die damit verbundenen Grundrechte von der Zeugung bis zum Tod ein«. Dass damit Antifeminismus einhergeht, weil ungewollt Schwangeren der Zugang zu sicherer Abtreibung verwehrt wird, sagen sie nicht. Neben der umfassenden Ablehnung von Abtreibungen setzt sich der Verein auch gegen Praktiken der Sterbehilfe, Stammzellforschung und Präimplantationsdiagnostik ein.
Neben Antifeminismus attestiert das What the Fuck Bündnis (wtf), das jedes Jahr kreative Gegenproteste organisiert, der Bewegung auch Queerfeindlichkeit. Dieses Jahr ruft es unter dem Titel »Burn the Patriarchy« zu einer Demonstration am Vormittag und anschließenden Störaktionen auf. »Wir sind antifaschistisch und queerfeministisch«, erklärt Ella Nowak, die Pressesprecherin von wtf. Unter anderem wird es Aktionen der Gruppe pink and silver radical cheerleading geben, erzählt Ella Nowak. Die Gruppe habe Rufe und feministische Slogans in Choreografien übersetzt und wird Formationen zeigen, wie man sie aus dem Cheerleading kennt.
Im Aufruf von wtf heißt es: »Christliche Fundamentalist*innen und andere reaktionäre Leute kommen am 17. September 2022 nach Berlin-Mitte. Alle Jahre wieder organisieren sie ihren «Marsch für das Leben», auf dem sie ein generelles Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen fordern. Unter dem ironischen Deckmantel des «Lebensschutzes» verstecken sie ein Weltbild, in dem nicht jedes Leben gleich schützenswert ist. Sie sind homo- und transfeindlich, haben eine eingeschränkte Vorstellung von Geschlechterrollen und Sexualität – und setzen diese absurde Beschränktheit als Normalität.«
Auch das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, in dem unter anderem Beratungsstellen, feministische Gruppen, Gewerkschaften und Parteien organisiert sind, ruft zum Gegenprotest am Samstag auf.
Wtf veröffentlichte auf Twitter eine Recherche über die Menschen und Organisationen, die beim Marsch für das Leben mitlaufen. Sie schreiben: »Transfeindlichkeit ist ein zentraler Baustein der christlich-fundamentalistischen Ideologie«. Die Lebensschützer*innen würden regelmäßig Artikel der »Emma« retweeten. In denen geht es unter anderem um das von der Bundesregierung geplante Selbstbestimmungsrecht. Durch das Gesetz sollen transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen die Möglichkeit erhalten, ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister durch eine einfache Erklärung beim Standesamt ändern zu lassen. Die Autorin Chantal Louis schreibt in der »Emma«: »Dieses neue Gesetz könnte Zehntausende Jugendliche die körperliche und seelische Unversehrtheit kosten. Und die Schutzräume von Frauen gefährden.«
Feminist*innen im Umfeld der »Emma« werden als TERFs und SWERFs kritisiert. Das Akronym TERF steht für »Trans Exclusionary Radical Feminism«, für einen Feminismus also, der trans Personen ausschließt. SWERF steht dagegen für »Sex Work Exclusionary Radical Feminism«. »Wenn die Lebensschutz-Bewegung «Emma»-Inhalte teilt, sollte der «Emma» vielleicht auffallen, dass irgendetwas mit ihrem Feminismus falsch läuft«, sagt Ella Nowak dazu.
Das What the Fuck Bündnis spricht von einem »großen antifeministischen Wochenende«, der Marsch für das Leben ist dabei nur eines von mehreren Events. Am Samstag nach dem Marsch für das Leben vernetzt sich die sogenannte Lebensschutzbewegung bei »Forum Familie«. Demo für alle, ein Verein, der das Forum mit veranstaltet, zitiert auf Twitter den Neurowissenschaftler Dr. Raphael M. Bonelli mit den Worten: »Je männlicher der Mann ist & je weiblicher die Frau, desto besser für das Kind.«
Dieses Jahr haben die Gegenproteste auch durch internationale Entwicklungen besondere Relevanz, denn erst Ende Juni hat in den USA das Verfassungsgericht das Recht auf Abtreibung gekippt. In Polen drohen der Aktivistin Justyna Wydrzyńska drei Jahre Haft, weil sie ein Abtreibungsmittel verteilt haben soll. Auch Ungarn plant, die Abtreibungsregeln zu verschärfen. Frauen sollen sich vor einem Abbruch die Herztöne ihres Embryos anhören müssen.
Es gibt jedoch auch positive Entwicklungen. »Beim Thema Schwangerschaftsabbruch ist unser Eindruck, dass die gesamtgesellschaftliche Meinung dazu viel fortschrittlicher ist als das, was die selbst ernannte Lebensschutzbewegung da proklamiert«, sagt Ella Nowak und verweist auf die Abschaffung des §219 in Deutschland.
Die Sex Worker Action Group (Swag) existiert seit 2020 und ist eine selbst-organisierte und nicht-hierarchische Gruppe von und für Sexarbeitende. Die Gruppe beobachtet eine »wachsende Querfront zwischen vermeintlichen Feminist*innen, Transfeinden, sogenannten Prostitutionsgegner*innen, christlichen Fundamentalist*innen, Rechtskonservativen und offenen Faschist*innen«. »Wir haben in der Vergangenheit mit dem What-The-Fuck-Bündnis Gegenproteste organisiert und werden dies auch in Zukunft solange tun, wie Menschen unsere Körper und Leben fremdbestimmen wollen«, heißt es von der Gruppe in einem schriftlichen Austausch mit »nd«. Dabei erwähnt Swag, dass man unter anderem mit dem von Frank Heinrich (CDU) angeführten Netzwerk »Gemeinsam gegen Menschenhandel e.V.« zu kämpfen habe, das »unter der Fahne des vermeintlichen Kampfes gegen Menschenhandel religiöse Propaganda« betreibe. Wenig überraschend sei Frank Heinrich auch ein offener Unterstützer des Marsches für das Leben. »Wir denken, dass der Kampf von Sexarbeitenden historisch und politisch eng verbunden ist mit dem feministischen Kampf für den Zugang zu sicheren Abtreibungen und, allgemeiner, der Bewegung für körperliche Autonomie und anerkannte Reproduktionsarbeit«, stellt die Gruppe klar. »Jene, die beim Marsch für das Leben mitlaufen, interessieren sich nicht für einen Schutz von Kindern, Frauenrechten oder ein lebenswertes Leben. Sie wollen die Religion zur Politik machen und wollen eine autoritäre Gesellschaft, in welcher Menschen nur in klar definierten Schubladen existieren dürfen. Wir wissen aus Erfahrung und der Geschichte, dass Sexarbeitende in solch einer Gesellschaft keinen Platz hätten und sie uns auch mittels Gewalt in ihre Schubladen stecken würden.«
Der Marsch für das Leben erfährt viel Unterstützung seitens der katholischen Kirche. Bischof Dr. Georg Bätzing bedankt sich in einem Grußwort bei dem Verein für seinen »beharrlichen Einsatz« für das menschliche Leben, das »mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle« beginne. Als im Juli EU-Abgeordnete die Aufnahme des Rechts auf Abtreibung in die EU-Charta der Grundrechte forderten, sprach sich der Limburger Bischof auch dagegen aus. 2014 sandten Papst Franziskus und Kardinal Reinhard Marx Grußworte.
Auch auf die Verbindung der sogenannten Lebensschutz-Bewegung zur rechten Szene machen wtf und Swag aufmerksam. AfD-Politikerin Beatrix von Storch nahm mehrfach am Marsch für das Leben teil und führte ihn teilweise sogar an. 2018 berichtete die »Frankfurter Rundschau«, dass mehrere AfD-Mitglieder aus der parteiinternen Vereinigung »Christen in der AfD«, darunter deren Vorsitzender Joachim Kuhs, am Marsch teilgenommen hatten. Auch der ehemalige Diakon, Rechtsextremist und Holocaustleugner Ralf Löhnert war bereits mehrmals unter den Demonstrierenden. Inzwischen laufen die Rechten jedoch nicht mehr in der ersten Reihe mit. Wtf-Pressesprecherin Ella Nowak sagt: »Das ist bei denen angekommen, dass die sich damit keinen Gefallen tun, wenn sie offen mit Nazis kooperieren. Im Hintergrund läuft das aber weiter. Die sind auch international gut mit Rechten vernetzt, aber um einen bürgerlichen Anstrich bemüht.« Auch wird das Bild nach außen nun stärker kontrolliert. Früher habe es beispielsweise Babycaust-Plakate gegeben, die Schwangerschaftsabbrüche mit der Shoah verglichen. Die sehe man nur noch ganz vereinzelt, auch da die Organisation inzwischen eigene Plakate an die Teilnehmer*innen ausgibt.
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