- Kultur
- Jürgen Wittdorf
Zeichner der Jugend
Der ostdeutsche Illustrator und Grafiker Jürgen Wittdorf wird im Schloss Biesdorf in Berlin wiederentdeckt
Zu DDR-Zeiten war Jürgen Wittdorf ein regelrechter Erfolgskünstler. Der Staatliche Kunsthandel der DDR ließ Holzschnitte des 1932 in Karlsruhe geborenen Zeichners und Grafikers jedenfalls in imposanten Auflagen von 10 000 Stück drucken. Diese Arbeiten, insbesondere die Zyklen »Für die Jugend« und »Jugend und Sport«, können sich auch heute noch behaupten. Denn Wittdorf entwickelte einen Realismus, der eher an den anarchisch-rebellischen Charakteren eines Rainer Werner Fassbinder orientiert war, der etwa zur gleichen Zeit im Westen seine Filme über eine unangepasste Jugend drehte, als an den klischeehaften Heldendarstellungen von Werktätigen im sozialistischen Realismus, der im Osten zumindest von den Funktionären gefordert wurde. Wittdorf war zwar ein Auftragskünstler, der für Betriebe und Institute zeichnete und Druckstöcke schnitzte. Er schmuggelte aber eine bemerkenswert expressive Spannung in die vornehmlich jugendlichen Leiber ein, die seine Bilder bevölkerten. Er sah sie in Schwimmbädern und Sporthallen, in denen er zeichnete. Sie kamen auch über die Mal- und Zeichenzirkel, die er unter anderem im Haus der Jungen Talente (heute Podewil) leitete, zu ihm.
Vor allem die Körper der Jugendlichen und jungen Männer scheinen förmlich zu vibrieren. Bei dem Holzschnitt »Gruppe mit Fahrrädern« (1961) halten sich fünf junge Burschen förmlich an ihren Stahlrössern fest. Bei einem ist das Hemd halb aufgeknöpft, die Brust lugt hervor, eine Kette mit Anhänger um den Hals ist zu sehen. Wie auf dem Sprung kauert sich ein anderer neben ihm über die Lenkstange. Elegant der Faltenwurf von Hose und Hemd bei einem dritten. Wittdorfs Blick auf die hier noch bekleideten Männerkörper mochte durch die eigene Homosexualität geschärft worden sein. Später kommen ausdrucksstarke Männerakte hinzu, zunächst eher schmächtige Körper, dann athletischere Sportlerkörper, schließlich, als er auch in Body-Building-Studios zu zeichnen begann, mit mächtigem Muskelgewebe ausgestattete Oberkörper und Arme.
Die Ausstellung präsentiert aber auch Keramikarbeiten von Wittdorf. Hier handelt es sich um Männerporträts auf Tellern. Manche Wand im Schloss Biesdorf ist regelrecht bedeckt mit Porträtzeichnungen meist junger Männer und Frauen. Sie stellen einen Querschnitt der DDR-Gesellschaft dar. Polizisten und Wehrdienstleistende sind zu sehen, Frauen mit der einst typischen Dauerwelle, Männer mit dem Vorne-kurz-hinten-lang-Schnitt der 1970er und 1980er Jahre, aber auch Kerle mit wilden Bärten und wehendem Haar, die man eher der Prenzlauer Berger Bohème-Szene zuordnet.
Die enge Hängung der Porträts orientiert sich an Wittdorfs eigener Wohnung. Sie war, wie Jan Linkersdorff, der den Nachlass von Wittdorf ersteigert hat, erzählt, ebenfalls vollgehängt mit eigenen Werken. Linkersdorff war einst selbst Schüler von Wittdorf, betreibt die Studiogalerie in Friedrichshain und hat auf abenteuerliche Art viel von Wittdorfs künstlerischen Arbeiten bei einer Versteigerung des kompletten Nachlasses gerettet. Wittdorf malte und zeichnete nach dem Mauerfall und Systemwechsel zwar weiter. Seine Auftrag- und Arbeitgeber waren aber schnell verschwunden. Die meiste Zeit nach dem Mauerfall war er auf Sozialhilfe angewiesen. In dieser Zeit entstanden zahlreiche Stillleben, die er vor allem mitzeichnete während der privaten Zeichenstunden, die er weiter gab.
Ein überraschendes Nebenwerk sind die Tierzeichnungen, die er in einer frühen Phase schuf. Sorgsam ist jeder Strich gesetzt, Elefanten und Nashörner, Zebras und Raubkatzen sind auf den Blättern. Unbestreitbares Hauptwerk sind aber die Zyklen »Jugend und Sport« und »Für die Jugend«. Darin enthalten sind unter anderem die jungen Männer mit den Fahrrädern, aber auch der Schattenriss eines Jungen und eines Mädchens, die sich in einem Hauseingang küssen, und ein Paar, das mit dem Motorrad durch die Landschaft braust. Für den Zyklus erhielt Wittdorf übrigens den Kunstpreis der FDJ, im gleichen Jahr wie auch Manfred Krug und Armin Mueller-Stahl. Im Jahr darauf erhielt ihn Heiner Müller – das mag den Stellenwert andeuten, den Wittdorf einst hatte. »Jugend und Sport« wurde, so erzählt Nachlassverwalter Linkersdorff, für den Innenbereich der damals neu eröffneten Sporthochschule in Leipzig geschaffen. Dort sind die Werke nicht mehr zu finden, ebenso wenig wie in den vielen Betrieben und Instituten, für die Wittdorf Auftragsarbeiten lieferte. Umso verdienstvoller die Ausstellung jetzt, kuratiert von Karin Scheel vom Schloss Biesdorf und Stephan Koal, der vor zehn Jahren im Kunstverein Ost (Kvost) Wittdorf schon einmal – damals noch zu Lebzeiten – eine größere Ausstellung widmete.
Jetzt im Schloss Biesdorf wird Wittdorfs Werk noch mit Arbeiten heute lebender Künstler*innen umrahmt. Thematisch am nächsen ist ihm Norbert Bisky mit seinen Männerkörpern. Im Vergleich fällt allerdings auf, dass die Körper, die Bisky ins Bild setzt, eher anonyme Zeichen von Maskulinität sind, während bei Wittdorf der individuelle Ausdruck des Porträtierten ins Auge sticht. Bettina Semmers Männerporträts sind Darstellungen einer komplexen Verarbeitungsstufe, geschaffen nach Profilbildern und Botschaften auf einer Dating-Website. Veneta Androva setzt in ihren Videoarbeiten computergenerierte Landschaften und Protagonisten ein, während Harry Hachmeisters lakonische Keramiken mit den Tellern von Wittdorf in Beziehung gesetzt sind. Das ist konzeptionell gut gedacht. Die Fülle und auch die Qualität von Wittdorfs Arbeiten drängt diese Dialogbemühungen aber an den Rand. Zur Ausstellung ist auch ein Druckerzeugnis im Zeitungsformat erschienen, das über Titel und letzte Seite hinweg Wittdorfs großartigen Holzschnitt »Unter der Dusche« aus »Jugend und Sport« zeigt. Dem Schloss Biesdorf ist mit der Ausstellung »Jürgen Wittdorf (1932–2018) mit Veneta Androva, Norbert Bisky, Harry Hachmeister und Bettina Semmer« ein echter Coup geglückt.
»Jürgen Wittdorf (1932-2018) mit Veneta Androva, Norbert Bisky, Harry Hachmeister und Bettina Semmer«, bis 10.2.23 im Schloss Biesdorf, Alt-Biesdorf 55, Berlin.
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