Kampf um Deutungshoheit

Auf einer Konferenz der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank wurde über den Wandel des Holocaust-Gedenkens und den »Historikerstreit 2.0« diskutiert

Dass der NS-Ostfeldzug kolonialistische Züge trug, ist unbestritten: Ein Wehrmachtsangehöriger zu Pferd auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.
Dass der NS-Ostfeldzug kolonialistische Züge trug, ist unbestritten: Ein Wehrmachtsangehöriger zu Pferd auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.

Pünktlich zum Ende der diesjährigen Ausgabe der Kunstschau Documenta, die mit ihrem Antisemitismus-Skandal die sommerlichen Feuilletons füllte – auf dem Kasseler Friedrichsplatz war ein riesiges Banner enthüllt worden, das judenfeindliche Karikaturen enthielt –, richteten die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main und die dortige University of Applied Sciences vergangene Woche die Konferenz »Beyond – Towards A Future Practice of Remembrance« aus.

Wie kann das Gedenken an den Holocaust mit dem Gedenken an koloniale Verbrechen verhandelt und gegebenenfalls verknüpft werden? Wie weit trägt das von dem US-Literaturwissenschaftler Michael Rothberg formulierte Konzept der »multidirektionalen Erinnerung«, dem zufolge Opfergruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten, wie es derzeit geschehe? Vor welchen Herausforderungen steht die deutsche Gesellschaft, in der immer mehr Menschen leben, deren Vorfahren weder Nazis noch Verfolgte des NS-Regimes waren, sondern die oft eigene kollektive Traumata (zum Beispiel aus den Jugoslawienkriegen) mit sich tragen? Und inwiefern unterscheiden sich die aktuellen Debatten vom 1986 ausgebrochenen Historikerstreit, in dem – damals vom konservativen Historiker Ernst Nolte – die Präzedenzlosigkeit des Holocaust angezweifelt wurde, ähnlich wie es Wissenschaftler wie Rothberg und der australische Genozidforscher A. Dirk Moses heute tun, wenn sie ihn in eine Reihe mit kolonialen Verbrechen stellen? Über diese Fragen diskutierten an zwei Tagen Wissenschaftler und Vertreter von Institutionen aus Deutschland, Israel, Polen, den USA, Namibia und Großbritannien.

Dass es dringenden Gesprächsbedarf gibt, hatte die Documenta noch einmal mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt: Das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa, das die diesjährige Ausgabe der Kunstschau kuratierte, verfolgt in Theorie und Praxis einen radikal »dekolonialistischen« Ansatz, in dem es darum geht, die Folgen der europäischen Kolonialherrschaft und der damit einhergehenden Gewalt gleichsam rückgängig zu machen. Dem westlichen, kapitalistischen Gesellschaftsmodell – das historisch auch auf dem Kolonialismus aufbaut – sollen dabei alternative Lebensformen, vor allem aus dem Globalen Süden, entgegengesetzt werden.

Es ist kein Geheimnis, dass viele Vertreterinnen und Vertreter postkolonialer Theorien dem Staat Israel, Zuflucht vieler Holocaust-Überlebender, kritisch bis ablehnend gegenüberstehen. »Israel wird in der postkolonialen Forschung nicht selten als koloniales Siedlerprojekt verstanden, seine jüdischen Bewohner als weiße Kolonialherren«, so formuliert es die Historikerin Sibylle Steinbacher im kürzlich erschienenen Sammelband »Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust«. Auch Ruangrupa verstehen Israel offenbar so. Auf den Befund der von den Documenta-Gesellschaftern eingesetzten Antisemitismus-Expertenkommission, dass viele in der Ausstellung gezeigte Kunstwerke den Nah-Ost-Konflikt thematisierten und nahezu alle von ihnen sich einseitig pro-palästinensisch positionierten, reagierten sie mit der Stellungnahme, dass der »antikoloniale Kampf der Palästinenser« sich in vielen Kunstwerken zeige, weil es eine »historische Solidarität unter transnationalen antikolonialen Befreiungsbewegungen« gebe. Der Bericht der Kommission versuche, diese Solidarität in Verruf zu bringen.

Israel als moderner Kolonialstaat – in diese Kerbe schlug nun in Frankfurt am Main auch der in den USA lehrende israelische Historiker Omer Bartov, Autor zahlreicher Publikationen über die Geschichte des Holocaust. Bartov, selbst Jude und Sohn Holocaust-Überlebender, berichtete von seinen eigenen Erfahrungen mit antisemitischer Gewalt und implizierte, dass Israels Existenz nicht in Frage gestellt werde dürfe. Zugleich fuhr er schweres Geschütz gegen das deutsche Holocaustgedenken und den die Israel-Boykott-Bewegung BDS verurteilenden Beschluss der Bundesregierung auf. In Deutschland herrsche, so Bartov, eine »Sakralisierung des Gedenkens«, die notwendige Kritik an Israels politischem Handeln unterbinde. Man müsse sich die Frage stellen, inwiefern die Leitlinien dieses »Erinnerungsregimes« israelischen Rechtsnationalisten und ihrer Siedlungspolitik in die Hände spielten. Zudem könne ein Gedenken, das den Holocaust zur Singularität erkläre, die Solidarität in einer zunehmend von Einwanderung geprägten deutschen Gesellschaft gefährden. Für die meisten Deutschen und Juden sei der Holocaust singulär, für Menschen bosnischer oder kambodschanischer Herkunft mit eigener Genoziderfahrung nicht unbedingt.

Hier wird deutlich, dass Bartov, wenn er von Präzedenzlosigkeit spricht, auf individuelles Empfinden abzielt – doch es war nicht ein solches individuelles Empfinden, das den US-Historiker Dan Diner 1988 dazu veranlasste, den Holocaust als »Zivilisationsbruch« zu bezeichnen. Der Rassenwahn, dem Jüdinnen und Juden zum Opfer fielen, setzte sich (im Gegensatz zu kolonialistischen Verbrechen) über die Grenzen kalkulierender Rationalität hinweg. Die Moderne und ihre Errungenschaften selbst wurden durch die Täter und ihre Methoden komplett entwertet – das bleibt bis heute tatsächlich beispiellos.

Und doch stimmte auch Steffen Klävers vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin Bartovs Aussage zu, dass kein Ereignis in der Geschichte so einzigartig sei, dass es nicht historisch kontextualisiert werden könne – wenngleich aus einer argumentativ entgegengesetzten Richtung. Klävers hat sich im Rahmen seiner 2019 erschienenen Studie »Decolonizing Auschwitz? Komperativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung« eingehend mit Vergleichen des Holocaust mit Kolonialverbrechen befasst. Nur durch den Vergleich könne man überhaupt zu dem Schluss kommen, so Klävers, dass der Holocaust etwas Präzedenzloses in der Geschichte sei. Und gerade weil man kontextualisiere, würde man mit der Feststellung der Beispiellosigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen diese auch nicht mythologisieren – ein Vorwurf, der Vertretern der Singularitätsthese oft gemacht werde. Zudem sei in Deutschland Kritik an Israel, anders als von Bartov angedeutet, keineswegs untersagt.

Klävers rief in Erinnerung, dass die heutigen postkolonialen Debatten um den Holocaust auf Hannah Arendts »Bumerang-These« zurückgeführt werden können. Arendt formulierte schon in ihrem 1951 publizierten Werk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, dass Praktiken, die von den Kolonialherren in den Kolonien angewandt wurden, gleich eines Bumerangs nach Europa zurückgekehrt seien. Also: Der Kontinentalimperialismus habe zur Entstehung des Nationalsozialismus entscheidend beigetragen. Tatsächlich gebe es Elemente des Kolonialismus auch im Nationalsozialismus, in dieser Hinsicht scheinen sich alle Redner der Konferenz einig zu sein. Doch Klävers warnte auch mit Dan Diner davor, dass durch die Integration verschiedener historischer Ereignisse in eine »große Erzählung der Moderne« anstelle des, so Diner, »verloren gegangenen historischen Urteilsvermögens ein universell drapierter Diskurs über unterschiedslose Opferschaft« geführt werde, der »in letzter Konsequenz vor einer Dekonstruktion des Gedächtnisses an den Zweiten Weltkrieg ebenso wenig haltmachen wird wie vor der Geltung und Bedeutung des Holocaust.«

Die Debatte um die Singularität des Holocaust ist nicht neu. Deswegen ging es auch um die Frage, ob es sich bei der gerade geführten Auseinandersetzung tatsächlich um eine Neuauflage des Historikerstreits von 1986, einen so genannten »Historikerstreit 2.0« handele. Dagegen sprechen drei Befunde, wie Klävers anführte: Zum einen handele es sich heute nicht mehr, wie in den 1980er Jahren, um eine innerdeutsche, sondern eine internationale Debatte. Zudem werde die Singularitätsthese heute von linksliberaler Seite problematisiert, während sie damals von Linksliberalen gegen Konservative verteidigt wurde. Drittens gehe es heute viel um das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus und den Staat Israel – diese Themen hätten in den 1980ern in der Diskussion keine Rolle gespielt. Allerdings verwiesen sowohl Klävers wie auch Felix Axster, ebenfalls vom Zentrum für Antisemitismusforschung, darauf, dass über ähnliche Themen wie heute schon in den 2000er Jahren in der Holocaustforschung diskutiert wurde.

Was bleibt? Insgesamt zeigte die Konferenz, von der hier nur einige Aspekte und Redner unter vielen abgebildet wurden, dass der Nah-Ost-Konflikt aus der Debatte um das Holocaustgedenken und Antisemitismus in Deutschland nicht mehr wegzudenken ist. Dennoch sollte darauf beharrt werden, dass Gedenken außerhalb von aktuellen geopolitischen Konflikten stattfinden muss. Und dass Jüdinnen und Juden keinesfalls mit dem Staat Israel und seiner Politik gleichzusetzen sind. Zudem sollte es darum gehen, anhand wissenschaftlicher Fakten und fundierter Recherchen aufzuzeigen, wie komplex sich die Situation im Nahen Osten gestaltet, wo seit dem Bronzenen Zeitalter verschiedene ethnische Gruppen leben und Herrscher stellten. Dabei gilt es auch, propagandistischen, irreführenden und historisch ungenauen Begriffen wie »Apartheid«, NS-Vergleichen sowie der schlicht unwahren Rede vom »Genozid an den Palästinensern« entschieden entgegenzutreten. 

Fast alle Konferenzbeiträge sind aufgezeichnet worden und auf Youtube abrufbar.  

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