- Kultur
- R. Kelly
Wer andere wie Material behandelt
Musiker als Täter wie zum Beispiel R. Kelly: Kann man Künstler von ihrer Kunst trennen?
Gehören Künstler und Kunstwerk unabdingbar zusammen? Oder ist es möglich, künstlerische Produkte zu genießen, ohne an problematische oder gar kriminelle Machenschaften ihrer jeweiligen Erschaffer erinnert zu werden? Die Frage existiert wahrscheinlich schon länger als der durch die Weltöffentlichkeit geisternde Begriff der »Cancel Culture«. Und in den letzten Jahren, vor allem seit Bewegungen wie #MeToo und der systematischen Aufdeckung von Missbrauchsvorfällen in der Musik- und Filmindustrie, wird diese Frage immer häufiger gestellt. Die Musik von R. Kelly hören? Die Bill Cosby-Show anschauen? Sich die Filmproduktionen reintrichtern, an denen Harvey Weinstein beteiligt war? Diese Fragen sind schnell beantwortet: Man darf es natürlich. Man sollte sich aber durchaus fragen: Warum will man das überhaupt?
Meine ersten CDs kaufte ich mit elf Jahren, im Jahr 1991. Eins der ersten Alben, die ich von oben bis unten durchhörte, war »Dangerous« von Michael Jackson. Die Platte spuckte bis Dezember 1993 eine Single-Auskoppelung nach der anderen aus und sorgte für einen Hype, der bis heute unvergessen ist. 1993 aber wurden aber auch breitflächig die ersten Missbrauchsvorwürfe in Richtung Jackson laut: Der US-amerikanische Zahnarzt Evan Chandler bezichtigte Jackson, seinen 13 Jahre alten Sohn Jordan sexuell missbraucht zu haben. Von diesen Anschuldigungen erfuhren wir natürlich auch als Teenager, die immer noch »Dangerous« im CD-Player rauf- und runterlaufen ließen. »Cancel Culture« war damals noch gar kein Thema, aber schon als Jugendliche wussten wir ohne Zweifel, dass das, was Michael Jackson getan haben sollte, absolut heftig war. Und wir versuchten, als junge Fans eine Konsum-Umgangsstrategie zu entwerfen, die wir irgendwie moralisch korrekt und umsichtig fanden. »Also ich finde, Michael Jackson war als Mensch scheiße, aber als Musiker top«, beendete irgendwann einer unserer Kumpel die Diskussion, und dankbar segneten wir diese Einschätzung ab – um weiter passioniert und ohne schlechtes Gewissen »MJ« hören zu können.
Heute, Jahre später, sieht die Lage zumindest bei mir anders aus. Es gibt unzählige Jackson-Songs, die früher eine große Bedeutung für mich hatten. Heute steuere ich sie nicht mehr aktiv an – und wenn sie im Radio laufen, schalte ich sie nach ein paar Sekunden bittersüßen Nostalgieempfindens einfach weg. Und, ehrlich gesagt: Es versetzt mir einen Stich, mich nicht mehr voller Freude in Jackson-Songs stürzen zu wollen. Aber noch undenkbarer ist es für mich, die alten Lieder weiterzuhören, als hätte ich nie die Dokumentation »Leaving Neverland« von 2019 gesehen, in der mehrere Personen, die Michael Jackson des Missbrauchs bezichtigen, ihre Geschichten erzählen.
Manchmal aber kann ich meine eigene »Consequence Culture« eiskalt durchziehen. Vor allem dann, wenn ich mich in Musik hereingesteigert habe, die eigentlich nur so mittelgut ist – aber eine persönliche Bedeutung für mich hatte. Aus heute für mich unerfindlichen Gründen war eine der wichtigsten Platten meiner Musik-Sozialisation »Love is Hell« von Ryan Adams. Der Musik von Adams hatte ich mich jahrelang auf obskure Art und Weise regelrecht verschrieben. Seine Platten besaß ich zumeist in doppelter Ausführung (CD und Vinyl) – bis mir Anfang 2019 eine gute Freundin, die über mein Adams-Fandom sehr gut im Bilde war, mir den Link zu einem »New York Times«-Artikel schickte.
»Hast du das hier schon gesehen?«, fragte sie mich. Ich las die Überschrift, in der »Women Say They Paid a Price« vorkam – und ich wusste schon, was mich erwartete. Und dass ich in wenigen Minuten kein Ryan Adams-Fan mehr sein würde. Ich lag richtig: Mehrere Frauen warfen Adams vor, sich in Beziehungen wie ein toxisches Arschloch verhalten zu haben. Und, was sozusagen das Ekel-i-Tüpfelchen war: Es kam heraus, dass Adams sich mindestens an eine Minderjährigen sehr explizit über soziale Netzwerke herangemacht hatte. Ich las den Artikel und verkaufte wenige Wochen später meine Ryan Adams-Platten – ohne einen Funken Schmerz in der Brust. Was aber auch einfach ist, wenn man die weinerlichen Gitarrenlieder von Adams als das erkennt was sie sind: Jämmerliche Schmerzensmannmusik von einem Dude, der andere wie Scheiße behandelt und dafür gerne in Selbstmitleid badet.
Aber dennoch: Es ist nicht immer so einfach, sich von problematischer Kunst und Popkultur zu verabschieden. Vor allem, da es einem Wissen bedarf, welche*r Kriminelle*r an welchen Produktionen beteiligt war. Natürlich war es ab 2013 einfach, die Musik der Lostprophets aus seinem Radar zu löschen, nachdem man erfahren hatte, dass Sänger Ian David Karslake Watkins ein komplett widerlicher Pädophiler mit ausgeprägten Kindsmordfantasien war. Vor allem, als sich richtigerweise dann auch die Band als Konsequenz auflöste und sowohl Radio- als auch Streamingdienste die Songs der Band aus den Playlists verbannten.
Schwieriger aber wird es, zum Beispiel den kompletten Song-Katalog des US-amerikanischen Musikproduzenten Phil Spector aus seiner Konsumpalette zu entfernen. Spector, der schon in den 1970er Jahren seine damalige Frau Ronnie Spector (die auch als Lead-Sängerin der Girlgroup The Ronettes bekannt war) immer wieder misshandelt und psychisch gequält hatte, wurde 2009 wegen Totschlags an der Schauspielerin Lana Clarkson zu einer 19jährigen Haftstrafe verurteilt. »River Deep – Mountain High« (Tina und Ike Turner), »Be my Baby« (The Ronettes), »Let it be« (The Beatles) – die Liste seiner teilweise wirklich legendären Musikproduktionen ist lang. Gleichzeitig aber fällt es hier vielleicht leichter, Spector als einfachen Handwerkshelfer der Musikproduktionen und damit als Randfigur der Songs zu betrachten.
Es ist aber auch sehr einfach, Künstler NICHT von der Kunst zu trennen – vor allem dann, wenn sie sich ganz offensichtlich »mit Haut und Haar« ihrem Werk verschrieben haben. Der US-amerikanische R&B-Sänger R. Kelly, der seit 2021 nach einem Gerichtsprozess in New York City auch offiziell verurteilter Sexualstraftäter ist, hat seine Neigung, Minderjährige zu missbrauchen, bereits in den 1990ern gewissermaßen ganz offen und regelmäßig besungen und in Musikproduktionen in Beton gegossen. Mitte dieses Jahres wurde er von der Jury eines Bundesgerichts in Chicago zudem nochmal in sechs von 13 Anklagepunkten des Missbrauchs Minderjähriger schuldig gesprochen.
Kelly schrieb und produzierte so viele Hits, die ganz eindeutig von seinem eigenen Verhalten »inspiriert« wurden, dass man schon ein sehr großes Verdrängungspotential besitzen muss, um diesen Umstand gepflegt ignorieren zu können. Kelly produzierte das Debüt-Album der 2001 verstorbenen Sängerin Aaliya und betitelte es mit einer für ihn klaren Message: »Age Ain‹t Nothing but a Number«. Er schrieb »You Are Not Alone« für Michael Jackson – und bis heute hält sich das Gerücht, dass er den Song einer Minderjährigen gewidmet hat, die er missbraucht und geschwängert hatte – und die eine Fehlgeburt erlitt. Überhaupt ist es unmöglich, den Lyrik-Katalog Kellys, der sich in weiten Teilen sexuellen Themen widmet, nicht als das zu sehen, was es ist: Die schmierigen und problematischen Sex-Fantasien eines Mannes, für den Frauen – und vor allem: Teenager jenseits des Erwachsenenalters – einfach nur Material sind. »The Greatest Sex«, »Tempo Slow«, »Sex Planet« – diese Songs dokumentieren nichts anderes als Kellys ausbeuterische und übergriffige sexuellen Vorlieben. Kunstvoll ist daran nichts mehr – es sollte im besten Fall der Ekel überwiegen, wenn man Lyrics wie »It really don’t matter who’s first in the shower; fruit platter from a young maid every hour« hört, die Kelly in dem Song »If I‹m Wit You« verwurstet hat.
Es sind zentrale Fragen, die man sich stellen muss, wenn Künstler sich als Täter entpuppen – und man sich als Rezipient fragt, ob man noch so ohne Weiteres ihre Arbeiten unbehelligt weiter konsumieren möchte. Eine Antwort, die aber feststeht, ist auf jeden Fall: Es kann keine wirkliche Trennung von Kunst und Künstler geben, wenn die Kunst sehr genau widerspiegelt, wer der Künstler ist.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.