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Unhold im Altenheim

Das Rad der Geriatrie: Timofej Kuljabin hat »Platonow« am Deutschen Theater Berlin zur Premiere gebracht

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Biedermeierliche Überfülle: "Platonow" am Deutschen Theater Berlin
Biedermeierliche Überfülle: "Platonow" am Deutschen Theater Berlin

»Liebst du mich? Nicht im geringsten, mir ist bloß langweilig.« Was für eine Endzeitfigur, frei von jeder Rücksicht auf andere und sich selbst. Frei von allen Normen und humanen Werten, bereit für den Untergang, die Selbstzerstörung. Man kreist um sich selbst, meidet jede Bewegung, weil diese die eigene Selbstgerechtigkeit stört, hütet die Lebenslügen. Ein Stück aus lauter Statik – die Rebellion, die nach außen gehen müsste, bleibt innen, aber in der Stickluft der Weltabgeschlossenheit scheint diese Innerlichkeit längst welk geworden.

So also Platonow, Tschechows vielleicht verstörendste Figur, die Beckett (fast hundert Jahre vor ihm) erstaunlich nah kommt, nun in der Lesart von Regisseur Timofej Kuljabin am Deutschen Theater Berlin. Er nimmt Anton Tschechows zu dessen Lebzeiten unveröffentlichten Erstling, ein Konvolut von Notizen und Szenen mit einer Gesamtspielzeit von etwa acht Stunden, als zweieinhalbstündiges Material für etwas ganz Eigenes. Den »Verrat der Intellektuellen«, wie es Julien Benda einst nannte? Das wäre ein hochaktuelles Thema in wieder ideologisch gewordenen Zeiten. Man durfte auf die Lesart des aus Protest gegen Putins Krieg aus Russland fortgegangenen Regisseurs gespannt sein, der unlängst mit einer Inszenierung von »Drei Schwestern« für Furore sorgte, in der kein einziges Wort gesprochen wurde.

Den Titel »Platonow« gab man dem namenlosen Werk, als es in den 1920er Jahren dann doch herauskam, nach der Hauptfigur. Hier sind gleichsam alle späteren Stücke Tschechows bereits angelegt, wenn auch noch unausgeführt. Russland ist Mitte des 19. Jahrhundert ein schier hoffnungslos rückständiges Land mit Hunger und Seuchen, beherrscht von einer brutal-asozialen Obrigkeit, gegen die nur einige Idealisten (Ärzte, Lehrer) stehen. Angesichts von allgegenwärtiger Reformunfähigkeit und herrschender Apathie grassiert Ekel, auch Selbstekel unter denen, die es besser wissen. Enttäuschte Idealisten, die dem Alkohol verfallen oder zu bloßen Zynikern werden.

So einer ist auch Platonow, eben noch ein junger Intellektueller mit hochfliegenden Plänen und nun Dorfschullehrer. Das beleidigt seinen Ehrgeiz, seine immer schon maßlosen Polemiken werden auf inflationäre Weise zerstörerisch. Aus persönlichem Scheitern wird tiefer Nihilismus, den er auf alle und jeden überträgt.

Platonow ist Tschechows dunkler Bruder. So zu werden wie dieser, fürchtete er früh. Lange bevor er Erfolg hatte. Das beobachtete er als eine Art russischer Krankheit um sich herum: lauter aggressive Redner, die auf narzisstische Weise nur noch um sich selbst kreisen – intelligente Monster. Ein Gegengift gegen die herrschende Scheinheiligkeit mit ihrem falschen Pathos, aber eben doch ein Gift. Luk Perceval hat in seiner legendären Schaubühnen-Inszenierung von 2006 (von der es glücklicherweise einen DVD-Mitschnitt gibt) dieses Thema mit Thomas Bading als Platonow und Karin Neuhäuser als Generalswitwe präzise herausgearbeitet. Platonow, der Soziopath – das ist bei Perceval eine neoliberale Figur, ein Selbstperformer, ohne jede moralische Grenze in sich.

Was nun macht Kuljabin aus diesem grandiosen Textfundus? Etwas sehr Merkwürdiges. Er verlegt die Szenerie vom abgelegenen russischen Landgut in ein Altenheim für Schauspieler. Statik herrscht auch hier, nichts bewegt sich. Die Leere vor dem Tod hat alle fest im Griff, die sich – wie in Zeitlupe – in Rituale flüchten. Rauchen, Schach spielen und dabei einschlafen, wieder aufwachen und sich an sich nichts erinnern. Oleg Golowko hat eine Bühne gebaut, wie man sie lange nicht sah. Gegen den Trend zur Leere setzt er auf biedermeierliche Überfülle bis hin zu Häkeldeckchen und Topfpflanze.

Dass Kuljabin einen starken Sinn für bizarre Szenerien hat, die er dann bis ins scheinbar nebensächlichste Detail durcharbeitet, zeigt bereits die erste Episode in diesem Panoptikum: Wie ein Spiegel wird Anna Petrowna (wie alle hier betonschwer altgeschminkt: Katrin Wichmann) eine eben noch geputzte Brille vors Gesicht gehalten. Atmet sie noch, oder ist sie schon tot? Beiläufige Probe in einer aneinander desinteressierten Seniorenwohngemeinschaft.

Dann folgt der Auftritt von Platonow, neu hier auf dem Abstellgleis des Lebens und darum ein vitalisierendes Ereignis, das bei den Beteiligten die unterschiedlichsten Erinnerungen (aber nie gute) weckt. Auch er ein Provinzschauspieler, aber jünger wirkend als die greise Gesellschaft, die sich hier versammelt. Ein Spielertyp der fatalen Art. Das einzige Talent dieses oberflächlichen Menschen besteht offenbar darin, Gefühle zu heucheln. Ein notorischer Lügner, schlecht maskierter Menschenfeind aus bloßem Ressentiment. Alexander Khuon spielt solide das, was die Regie hier noch von Platonow übriglässt: den gealterten Casanova, der sich die Langeweile damit vertreibt, in den anwesenden Damen Liebesfunken mittels scheinheilig-galanter Reden zu entzünden. Sobald dieser Funke dann aufleuchtet, lässt er sie hohnlachend links liegen.

Die Idee war hierbei vermutlich, aus dem Marginalen das Zeittypische herauszuarbeiten. So wie Thomas Mann kongenial in seiner Novelle »Die Betrogene«. Eine Frau weit über 50 ist überglücklich, denn ihre Monatsblutungen haben wundersamer Weise wieder eingesetzt, sie fühlt sich wieder liebesfähig. Aber der Irrtum ist brutal. Nicht die Fruchtbarkeit hat wieder eingesetzt, sondern der Krebs in ihr, der Tod also, verursacht die Blutungen. Hätte Kuljabin dieserart Selbsttäuschung als virulenten Selbstbetrug der Handelnden sichtbar gemacht – es hätte eine aufschließende Lesart werden können. So aber kreist das Rad der Geriatrie, ohne sich von der Stelle zu bewegen.

Im Altenheim, mitsamt Bühne hinter einer Glastür, treten zur abendlichen Unterhaltung der Insassen die Heroen von Gestern auf und applaudieren sich gegenseitig. Diese Theater-im-Theater-Szenerie erweist sich letztendlich als ein Einfall, der nicht trägt. Alles gestrig, staubig, überladen, pathetisch – uninteressant? »Ich lese meiner Frau Tschechow vor – übel!« Na ja, da hat sich Kuljabin vielleicht doch den falschen Stoff für seine Dekonstruktion gesucht.

Kommt noch was? Enttäuschender Weise nein, dies ist Kuljabins »Platonow«-Lesart. Vermutlich wollte er dessen innere Zerrissenheit (von der wir nichts sehen) mittels grotesker Szenerie auf ihren tragikkomischen Kern bringen. Auch wenn die Situationskomik mitunter auflachen lässt: Es gerät flach. So hat dieser »Platonow« etwas von einer Boulevardkomödie.

Allerdings, Leere und Langeweile so auf die Bühne zu bringen, dass eine innere Spannung entsteht, ist schwer – Christoph Marthaler etwa arbeitet sich in seinen Inszenierungen bis heute mit wechselndem Erfolg daran ab. Hier aber sehen wir das Mängelwesen Mensch in Gestalt Platonows als besserwisserischen Spießer. Dessen plump wirkende Bosheiten sind jedoch bereits in der sprachlich wenig subtilen Stückvorlage angelegt, wo etwa aus einem Kuss ein »Schmatz« wird.

So verliert man irgendwann das Interesse an diesem Altenheimstammtisch, den Platonow dominiert: »Wenn du schon nicht meine Frau bleiben kannst, dann doch wenigstens meine Pflegerin!« Das ist zu kurz gesprungen.

Nächste Vorstellungen: September, 11., 13. und 26. Oktober
www.deutschestheater.de

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