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»Schau dir nur die Menschen an«
»Leben im Schatten der Stürme«: Landolf Scherzer war unterwegs auf der Krim
Kaum kommt er in die Küche, wird ihm usbekischer Plow aufgetan. Danach gibt es Tee, geschnittene Äpfel, Eierkuchen mit Feigenkonfitüre. Schließlich eine Flasche Krimwein. »Muslimische Krimtataren trinken Alkohol?«, wundert sich der Gast. »Erst im Geschäft gekauft, wird er zu Alkohol«, sagt Großmutter Gulnada.
Ihr kleines aus Muschelkalksteinen gebautes Haus in Nowaja Derewnja, wo sie mit ihrer vierköpfigen Familie lebt, wird Landolf Scherzers Quartier bei seinen Erkundungen auf der Krim. Sein Freund Wassja hat es ihm vermittelt, bevor er mit seiner Frau aus Deutschland nach Australien ausgewandert ist. Nach Russland wollten sie nicht, weil sie dann wegen der EU-Embargopolitik nicht zu ihren Kindern nach Deutschland fahren dürften. »Ich fühle mich hier nicht mehr gut. Für die deutsche Politik und ihre Medien ist mein Russland nur noch ein alter neuer Feind«, schreibt er in seinem Brief zum Abschied: »Vielleicht kannst du für mich auf die Krim fliegen? Und alles aufschreiben …«
Reise in ein Konfliktgebiet. Immerhin konnte Landolf Scherzer 2021 noch von Berlin nach Moskau und von da nach Simferopol kommen. Den russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 hat er nicht vorausgesehen. Aber zu spüren bekam er, dass es einen Krieg bereits seit 2014 gab, als Russland die Krim, wo seine Schwarzmeerflotte stationiert ist, erst besetzte und dann nach einem (international nicht anerkannten) Referendum annektierte – in Folge der ukrainischen Staatskrise während der Maidan-Proteste. Der Nutzungsvertrag für den Marinestützpunkt in Sewastopol bis 2017 war von der ukrainischen Regierung, die eine Nato-Mitgliedschaft anstrebte, gekündigt worden. Nach der Annexion kündigte die Ukraine die Rückeroberung der Krim an. Doch militärisch ging sie gegen die damals entstandenen, selbsternannten »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk im Osten des Landes vor, man spricht von 13 000 Toten in diesem Bürgerkrieg. Im Februar erkannte Russland die »Republiken« an und begann so seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Wer mit russischem Visum auf die annektierte Krim reist, macht sich nach ukrainischem Gesetz des illegalen Grenzübertritts schuldig und darf für mindestens zwei Jahre keinen ukrainischen Boden mehr betreten. »Ich bin ein Illegaler«, sagt Landolf Scherzer.
Dabei war die Schwarzmeerküste der Krim doch seit der Zarenzeit ein Urlaubsparadies. Paläste und Sanatorien, aber unserem Autor gelingt es nur ein einziges Mal, im Meer zu baden. Freund Wassja hatte ihm ein brisantes Thema ans Herz gelegt: »Ich bin nicht, wie du denkst, ein Russe. Ich bin ein Krimtatar! Aber ich wurde nicht auf der Krim, sondern in Usbekistan geboren. In der Verbannung!« Im Mai 1944, nachdem die Rote Armee die Krim von deutscher Besatzung befreit hatte, ließ Stalin alle auf der Krim lebenden Tataren nach Sibirien und Mittelasien verbannen. Über 200 000 Menschen in verschlossenen, überfüllten Güterzügen. Viele starben. Die, die überlebten, wurden 1948 offiziell zu »Umsiedlern auf Lebenszeit« erklärt. Erst 1989 durften sie zurück in ihre alte Heimat, wo ihre Häuser natürlich nicht auf sie gewartet hatten.
Landolf Scherzer will mehr erfahren, in der großen tatarischen Familie Baraschew findet er dafür die besten Voraussetzungen – bei Großmutter Gulnada eine bescheidende, freundliche Bleibe und sechs Brüder, die ihr Bestes tun, damit er möglichst viel sieht und erlebt. Zunächst einmal fährt ihn der Jüngste, rothaarig, mit dem Spitznamen »Alexander der Große«, über eine Schlaglochstraße zur Meldebehörde. Da merkt man schon: Nicht unbedingt eine Komfortzone für ausländische Touristen ist die Krim, zumal jetzt nicht mehr. Aber Landolf Scherzer hat bei seinen Reisen durch Europas Osten, nach China, Griechenland, Kuba sowieso eher die Herausforderungen gesucht. Auch diesmal spürt man sein großes Talent, spontan zu reagieren und alles zu nehmen, wie es kommt. Auf Menschen, die ihm begegnen, geht er so freundlich zu, dass sie gern mit ihm reden, wobei ihm die russische Sprache zugutekam.
Durch den Kurort Saki spaziert er, wo leider von den Sanatorien, berühmt für den Heilschlamm, »auf Hunderten Metern nur Ruinen« geblieben sind. Nach 1992 hätte man die Kurbehandlung selbst bezahlen müssen. Und für die Erhaltung der Gebäude fehlte dem ukrainischen Staat das Geld. Das hört er von zwei Frauen, nachdem ihm ein Ingenieur von dem neuen Gasturbinenwerk erzählt hatte. »Dadurch könnte die 2015 von der Ukraine gesperrte Stromversorgung auf der Krimi wieder stabilisiert werden.« Dass auch das Wasser knapp wurde, weil der Nord-Krim-Kanal seitens der Ukraine durch einen Damm verschlossen worden war, erfährt man später. Gleich nach dem Einmarsch hat das russische Militär diesen Damm gesprengt.
Dass sich die Halbinsel seit 2014 in einer regelrechten Blockade befand – von Strom und Wasser abgeschnitten ebenso wie vom internationalen Zahlungssystem, dass die EU ein Exportverbot für Waren jeder Art verhängte –, was das für die Menschen dort bedeutet, ist in der deutschen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen worden. Nur vom Meer aus oder über die 19 Kilometer lange Krim-Brücke war die Versorgung der rund 2,3 Millionen Einwohner möglich. Auch die Drohung, die Brücke zu zerstören, gehört zu den Voraussetzungen dieses Krieges, der sich inzwischen bis in die Südukraine ausdehnte, um eine Landverbindung zur Krim zu gewährleisten. Das russische Vorgehen schockiert uns alle. Es richtet sich gegen unsere Interessen, zumal Deutschland sich zur Kriegspartei hat machen lassen.
Landolf Scherzer füllt Wissenslücken. Die Krim war ja seit der Eroberung durch Zarin Katharina II. 1783 russisch gewesen. Wie ein Gutsherr hat Chruschtschow das Gebiet 1956 der Ukraine geschenkt. »Es bleibt ja schließlich in der großen Sowjetfamilie. Dachte er«, schreibt Scherzer. »Du darfst nicht entscheiden: Das ist gerecht! Das ist ungerecht! Das ist gut oder das ist schlecht für die Zukunft der Krim!«, diesen Rat hatte der tatarische Filmemacher Nasur Yurushbaev seinem Freund Landolf in einem Brief mit auf den Weg gegeben. »Schau dir immer nur die Menschen an. Hör aufmerksam zu, was sie sagen … vertraue deinen Augen und den Ohren.«
Und so tun wir es auch beim Lesen. An der Seite des Autors sind wir auf Entdeckungen aus. Wir erfahren von Straßenbahnen aus Gotha, die auf der Krim unterwegs sind, von Joseph Beuys’ Flugzeugabsturz, mit dem er seine Vorliebe für Fett und Filz erklärte, von den jüdischen Karäern, die der Shoah entgingen, von Gorbatschows während des Augustputsches 1991 streng bewachter Datscha, und auch die Konferenz von Jalta darf nicht fehlen. Vor dem Denkmal von Churchill, Roosevelt und Stalin ließ sich Landolf Scherzer fotografieren.
Er hat all das im Präsens aufgeschrieben. So aufgeschlossen ihm die Leute entgegenkommen, so ist er doch mitunter auch auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. »Manche schweigen bis zum Tod über ihre Vergangenheit. Ein immer noch heftig wirkender lebendiger sowjetischer Fluch …« Als die Tartaren aus der Verbannung zurückkamen, erklärt einer der Brüder, wurden sie, »ob Schlosser, Professor oder Lehrer, zuerst zur Arbeit in Steinbrüchen, Zementfabriken oder in landwirtschaftlichen Staatsbetrieben gezwungen«. Mit diesem Buch durchstreift man eine Region, die ein Paradies sein könnte, und schaut in einen Abgrund. »Nicht nur bei den Tataren blieb die Angst wie ein Geschwür im Kopf.« Die einzelnen Menschen mit ihrem ganz eigenen Leben – was gelten sie, wenn es um Machtinteressen geht?
Landolf Scherzer: Leben im Schatten der Stürme – Erkundungen auf der Krim. Aufbau, 318 S., 40 Abb., 22 €. Buchpremiere: nd-Literatursalon mit Landolf Scherzer am 5. Oktober, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, Berlin.
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