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Der Streit ums Cannabis
Die Klassifizierung bestimmter Substanzen als Drogen folgt selten vernünftigen Überlegungen. Zudem erschwert die Illegalisierung immer auch die medizinische Nutzung. So auch im Fall von Cannabis – aber hier tut sich langsam etwas. Ein Update
Gebt das Hanf frei! Unter diesem Slogan kämpfen Menschen in Deutschland seit Jahrzehnten für die legale Nutzung aller Hanfpflanzen. Hier ist explizit auch die »Cannabis Sativa« gemeint, deren weibliche Exemplare psychoaktive Wirkstoffe enthalten. In Deutschland wurde diese Pflanze bereits 1929 verboten und unterliegt derzeit dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) – trotz weit verbreiteter Nutzung und obwohl Hanf zu den ältesten Nutzpflanzen der Erde gehört. In vielen westlichen Staaten ist allerdings im vergangenen Jahrzehnt Bewegung in die Debatte um die Legalisierung von Cannabis gekommen, teilweise ist diese sogar durchgesetzt. Seit März 2017 gibt es auch in Deutschland ein Gesetz, durch das Cannabis als Medizin relativ niedrigschwellig für Patient*innen verfügbar werden sollte.
Prof. Dr. habil Gundula Barsch, Jahrgang 1958, lehrt seit 1999 lehrt an der Hochschule Merseburg zum Thema »Drogen und soziale Arbeit«. Von 1998-2002 war sie Mitarbeiterin in der Nationalen Drogen- und Suchtkommission beim Bundesministerium für Gesundheit. Aktuell ist sie Teil des Forschungsprojekts »BioenergiePlus« der Hochschule Merseburg, das auf die Möglichkeiten von Cannabis in Zusammenhang mit dem Braunkohleausstieg fokussiert. An der fortlaufenden Studie zu selbstinitiierten Behandlungen mit Cannabis, die Gegenstand Ihres Artikels ist, arbeitet sie seit 2016 mit.
Konkret sieht die Lage derzeit so aus: Nach § 31 Sozialgesetzbuch haben »Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung … Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 1. eine … dem medizinischen Standard entsprechende Leistung a) nicht zur Verfügung steht oder b) im Einzelfall … nicht zur Anwendung kommen kann, oder 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.« Das Gesetz ist zu Gunsten der Patient*innen niedrigschwellig angelegt, indem es keine Indikatoren festlegt, für welche Krankheiten und Missbefindlichkeiten Cannabis verschrieben werden darf. So wird den behandelnden Ärzten eine zentrale Rolle bei entsprechenden Therapieentscheidungen eingeräumt, relevante Entscheidungen werden also dorthin delegiert, wo auch die medizinische Expertise ist.
Versperrte Wege für Patient*innen
In der Praxis sieht sich die Ärzteschaft in Hinblick auf Cannabistherapien allerdings weiterhin mit einer dürftigen Informationslage konfrontiert: Es existieren weder verlässliche Anwendungsempfehlungen noch durch die Ärztekammern anerkannte Fortbildungsangebote. Im Zusammenspiel mit befürchteten Regress-Forderungen seitens der Krankenkassen entsteht eine große Unsicherheit, ob diese Therapiemöglichkeiten tatsächlich genutzt werden sollten oder man lieber bei Altbekanntem bleibt. Viele Kostenträger stehen der Anwendung von Cannabis nach wie vor skeptisch gegenüber; bis Ende 2017 lag die Genehmigungsquote der Techniker Krankenkasse und den AOK-Kassen bei rund 64 Prozent, die Barmer genehmigte sogar nur 62 Prozent. Begründet wird die Ablehnung der Kostenübernahme häufig mit dem pauschalen Verweis auf den »fehlenden Nachweis der Wirksamkeit« (dpa 2017) – obwohl das Gesetz den Krankenkassen eine Ablehnung eigentlich »nur in begründeten Ausnahmefällen« einräumt.
Hinzu kommt, dass der Einsatz insbesondere von Cannabisblüten gegenläufig zu den aktuellen Entwicklungen in der modernen naturwissenschaftlichen Biomedizin steht. Diese operiert nach den Leitideen der evidenzbasierten Medizin, die auf die Erbringung klarer Kausalitäten und standardisierter Verabreichungen möglichst über aufwändige klinische Studien bestehen. Der Cannabistherapie wird hier zum einen das im Gesundheitssystem etablierte Patentwesen, zum anderen der bürokratisch erzeugte und eingeforderte, oft sehr kostspielige Status hoher klinischer Evidenz zum Verhängnis. Dieser Status ist letztendlich auf Strukturkonservatismus und Besitzstandswahrung ausgerichtet und grenzt ernstzunehmende medizinische Erfahrungen ebenso aus wie bestens belegte, effektive Präventions- und Therapiemöglichkeiten.
Für Cannabis werden nicht nur bisher fehlende standardisierte Dosierungsmöglichkeiten reklamiert. Die Vielzahl der Wirkstoffe in der Pflanze und der daraus resultierenden Pharmaprofile erschweren es, klare Kausalitäten eines Behandlungserfolgs und die von einer biomedizinischen dominierten Evidenzforschung geforderten, eindeutigen Ursache-Wirkungsbeziehungen festzustellen. Damit wird die Fixierung auf eindeutige Effekte pharmakologischer Wirkmittel zu einem wichtigen Hinderungsgrund, die Möglichkeiten der Cannabistherapie zu erschließen.
Die wissenschaftliche Näherung an das Thema Cannabismedizin stockt allerdings auch deshalb, weil es für klinische Studien bisher kaum genügend potente Finanziers gibt – es lässt sich mit diesem Naturprodukt eben schwer Geld verdienen. Schließlich brauchen solche Arbeiten in der Regel lange, um belastbare Ergebnisse und verantwortbare Empfehlungen vorlegen zu können. Alles in allem unterstreichen die gegenwärtigen Entwicklungen rund um die Cannabistherapie die Dringlichkeit, dem alten medizinischen Leitprinzips »Wer heilt, hat Recht« wieder Raum zu geben – etwas, das den durchaus ehrenwerten Bestrebungen evidenzbasierter Medizin keineswegs entgegenstehen muss.
Übersehenes Erfahrungswissen
Es existiert ein Mangel an geforderter biomedizinischer Evidenz bezüglich Cannabis, zusätzlich zu einer weiterhin konfligierenden gesundheitsökonomischen Gesamtsituation: Der Zugang zu Cannabis ist aufgrund strenger Verschreibungslimits hochschwellig und der Naturstoff zudem völlig überteuert, weshalb eine Ablösung längst etablierter Medikamente nur schwer gelingt; diese Kosten werden nicht geringer, sondern wachsen oft noch. Dieser Situation steht eine kontinuierlich steigende Nachfrage nach einer Cannabistherapie auf Patient*innenseite gegenüber: Laut einer Umfrage der Rheinischen Post unter großen Krankenkassen wie der Techniker, dem AOK-Bundesverband und der Barmer ließen sich bis zum Beginn des Jahres 2018 bereits 13 000 PatientInnen registrieren, die sich um eine cannabisgestützte Behandlung bemühen und für das Frühjahr 2018 kann bereits von über 20 000 Anträgen ausgegangen werden.
Weitere Hoffnung macht in dieser Situation, dass das Wissen um das Potenzial von Cannabis als Heilmittel bei der Bewältigung von Krankheiten und Leidenszuständen in bestimmten Kreisen der Bevölkerung nie vollständig verloren gegangen ist. Trotz jahrzehntelanger Einschränkungen in Forschung und Praxis durch die Einstufung als nicht-verkehrsfähiges Betäubungsmittel haben sozialwissenschaftliche Forschungen seit den 1990er Jahren immer wieder Belege dafür gefunden, dass Patient*innen und Leidende den Gewinn einer Cannabistherapie beim Umgang mit ihren schwierigen Lebenssituationen für so hoch einstufen, dass sie für die Beschaffung dieses Hilfsmittels selbst Strafverfolgung, Stigmatisierung durch ihr soziales Umfeld und unberechenbare Probleme auf sich nehmen.
Der Fakt, dass sich bei Cannabispatient*innen – inner- und außerhalb offizieller Behandlungen – über die Jahrzehnte wertvolles Wissen zur medizinischen Anwendung von Cannabis akkumuliert hat, sollte ernst genommen werden. Entsprechend versuchen Wissenschaftler*innen an der Hochschule Merseburg bereits seit mehreren Jahren auf unterschiedliche Weise, den Erfahrungsschatz der Cannabispatient*innen zu bergen. Ein Fundus von Interviews liefert höchst interessante Einblicke in eine zum großen Teil selbstinitiierte Behandlung mit Vollspektrum-Cannabis und CBD. Diese Sammlung wurde mit Rückgriff auf Methoden der sozialwissenschaftlichen Forschung konzipiert, erhoben und ausgewertet und wird bis heute regelmäßig ergänzt.
Die auf diese Weise entstandenen Einblicke sind eine wichtige Basis der gerade entstehenden interdisziplinären Forschungsdatenbank INDICA, die auf das Konzept »Citizens Science« zurückgreift: Eine Forschungsstrategie, deren Leitidee es ist, die Beforschten durch ihre Mitwirkung beispielsweise in Form von Datenspenden selbst zu Forschenden zu machen. Die sich abzeichnenden empirischen Befunde werden an die Betroffenen zurückgegeben und diese in die Auswertung und Interpretation zentral einbezogen. Hier entsteht also eine Datenbank, die sich auch über Ländergrenzen hinweg erstreckt, unter anderem in den deutschen, englischen und niederländischen Sprachraum.
INDICA sammelt systematisch Behandlungserfahrungen und unterzieht sie einer wissenschaftlichen Analyse. Das Projekt verwirklicht auf diese Weise die Idee, den Schatz der Erfahrungsmedizin zu heben, wie er offensichtlich längst (oder besser: schon seit langer Zeit) in der Bevölkerung existiert. Systematisch gesammelt und wissenschaftlich ausgewertet kann auf diese Weise Wissen zu Cannabistherapien vorgelegt werden. Diese Arbeiten erfüllen nicht den Gold-Standard klinischer Studien, medizinische Evidenz können sie aber dennoch beanspruchen. Die ersten Ergebnisse, die bisher über dieses wissenschaftliche Herangehen gesammelt worden sind, ermutigen, diesen beschwerlichen Weg weiterzugehen – beschwerlich ist er deshalb, weil es bisher nicht gelungen ist, für diese Arbeiten eine solide finanzielle Basis zu schaffen.
Medizin, nicht Droge
Die Einblicke in die Anwendungspraxis offizieller Cannabis-Medizin-Patient*innen, aber auch in das Dunkelfeld selbstinitiierter Behandlungen zeigen eine überraschende Breite an Anwendungsmöglichkeiten der Cannabismedizin: Dazu gehören Schmerzen, multiple Sklerose, Schlafstörungen, psychische Krisen, Depression, Ängste, ADHS, Morbus Bechterew, Entzündungen, Fatigue (Erschöpfungssyndrom), Rheuma, Krämpfe, Krebs, Hepatitis. Allein bei den in Behandlung stehenden interviewten Personen fanden sich 21 klinisch relevante Krankheitszustände sowie darüber hinaus Leidenszustände, die noch keine medizinische Anerkennung als krankheitswertig erhalten haben (z.B. Verspannungen, Stress, Sprachstörungen), bei denen Cannabis als Hauptmedikation eingesetzt wurde. Diese Breite der Anwendungsmöglichkeiten resultiert vermutlich aus der Tatsache, dass die Cannabispflanze eine ungewöhnlich komplexe pharmakologische Zusammensetzung hat: über 100 Cannabinoide und 200 Terpene, die sich auch noch mit zahlreichen verschiedenen Applikationsformen kombinieren lassen, darunter das Rauchen, die orale Einnahme und transdermale Aufnahme.
Eine wichtige Rolle spielt Cannabis offenbar außerdem bei der Reduktion oder Substitution anderer Medikamente wie Opiaten und in der Reduzierung unerwünschter Nebenwirkungen von Medikamenten wie Cortison – was aus Gründen, die genau betrachtet werden müssten, vonseiten der Politik mit großem Misstrauen bedacht wird. Insgesamt legen unsere Ergebnisse die Vermutung nahe, dass die Liste möglicher Indikationen für Cannabismedizin deutlich größer ist als bislang angenommen. Mithilfe von INDICA werden wir uns diesen Erfahrungen weiter nähern.
Präparat und Konsumform entscheidend
Als ebenso vielgestaltig erweisen sich die Kenntnisse zur Eignung unterschiedlicher Pharmaprofile und Applikationsformen von Cannabis, die bei den Patient*innen vorliegen. Offenbar verfügen diese außerdem über ein reiches Erfahrungswissen, das interessanterweise auch hilfreich empfundene Variablen von »Set und Setting« einschließt. Dieses Prinzip entwickelten Nutzer*innen von Drogen im privaten Kontext und es betont den großen Einfluss der äußeren (Setting) und emotionalen (Set) Umstände auf den Verlauf einer Drogenerfahrung. Unter Pharmaprofilen versteht man das Spektrum der verwendeten Cannabispräparate, das von (teil-)synthetischen THC-Monopräparaten über THC/CBD-Kombinationsextrakte bis hin zu standardisierten getrockneten Cannabis-Blüten reicht. Derzeit sind etwa 30 Sorten verschreibungsfähig, die vor allem nach ihrem THC/CBD-Verhältnis sowie nach ihrer Typenzugehörigkeit (Sativa/Indica/Hybrid) kategorisiert werden können. Die Bedeutung des richtigen Pharmaprofils für den Behandlungserfolg wird häufig unterschätzt.
Während die unterschiedlichen Präparate vor dem Gesetz gleichbehandelt werden – auch hier liegt die Entscheidung bei den behandelnden Ärzt*innen – bevorzugen die Patient*innen überwiegend die Blütenform. Vor allem die Monopräparate (Arzneimittel, die nur einen einzigen pharmakologisch wirksamen Bestandteil enthalten) werden wegen ihrer geringen und unvollständigen, einseitigen oder als zu eingreifend empfundenen Wirkung von den Patient*innen oft nicht akzeptiert und nach Verschreibung wieder abgesetzt.
Auch innerhalb der Sorten und Genotypen der Cannabispflanzen gibt es große Unterschiede. Ihre Wirkungen werden vor allem in eher körperlich und beruhigend (Indica) oder eher geistig und aktivierend (Sativa) unterschieden, woraus sich ernstzunehmende Hinweise für entsprechende Einsatzgebiete ergeben. So werden Sativa-Sorten beispielsweise für tagsüber stattfindende Aktivitäten empfohlen und Indica-Sorten eher für den abendlichen Gebrauch oder zur Behandlung von Ein- und Durchschlafschwierigkeiten. Ein Nichtbeachten dieser Unterschiede im Pharmaprofil kann offensichtlich gegenteilige, auch pathologische Effekte provozieren, die in der medizinischen Praxis nicht vorschnell als Beleg für die Nichteignung der Cannabistherapie gewertet werden sollten. Eine Patientin berichtet: »Indica-Sorten sind zum Beispiel besser für mich, da das mehr drückt, also müde macht. Bei Sativa-Gras muss ich (…) zu viel nachdenken und kann auch wieder nicht einschlafen. Also man kann das schon ein bisschen beeinflussen.«
Beim Management von Krankheits- und Leidenszuständen beachten die Patient*innen, dies ergab die Datenbank, nicht nur die verschiedenen Cannabis-Genotypen, sondern davon unabhängig auch das Verhältnis von THC und CBD im jeweiligen Präparat. Insbesondere Patient*innen, die bei der Behandlung mit THC-dominanten Sorten oder Monopräparaten unerwünschte psychische Nebenwirkungen wie Ängste, »kreisende Gedanken« oder Schlafstörungen feststellen, profitieren von CBD-haltigen Präparaten, die als besonders angstlösend und beruhigend wahrgenommen werden. Ein weiterer Auszug aus einem Patient*innenbericht: »Bei Sativex, einem Mundspray (…), hab ich bis heute nicht so raus, wie viele Sprühstöße ich genau brauche, damit es ein bisschen so was Positives hat. Eher zufällig habe ich dann entdeckt, jetzt, vor einem Monat, das, was ich will, und das, was ich brauche, ist das CBD und nicht das THC. (…) Da komme ich immer direkt ein bisschen mehr in so eine Grundruhe rein.«
Die von den jeweiligen Patient*innen gewählten Applikationstechniken und Gerätschaften sind dabei keinesfalls »reine Formsache«, sondern verändern offensichtlich maßgeblich die zu erwartende Wirkungsweise des Cannabispräparats. Mangelt es an Wissen und Erfahrungen, so beginnen die Patient*innen oft selbständig und unter Heranziehen verschiedener Informationsquellen mit dem Erforschen geeigneter Applikations- und Zubereitungsformen. Für eine weniger systemische und mehr lokale Symptomlinderung wurden sogar eigene Rezepturen für transdermal, also durch die Haut wirkende Cremes und Salben entwickelt. Die Suche der passenden Anwendungsform kann als quasi-wissenschaftliches Vorgehen betrachtet werden, indem durch kleinere Experimente oder nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum die effizientesten und wirksamsten Wege des Konsums herausgefunden werden.
Mit den eigenen Erfahrungen belegen einige Befragte beispielsweise den Einsatz eines Vaporisators bei akuten Schmerz-Spitzen oder eine orale Einnahme; manche stellen sich eigenes Öl oder spezielle Mischungen abgefüllt in Gelatinekapseln her, die aufgrund der langen und konstanten Wirkungsdauer (»Depotwirkung«) für optimales Durchschlafen bei Schmerzen und Krämpfen geeignet sind. Da die in den Blüten enthaltenen Cannabinoide und Terpenoide jeweils unterschiedliche Verdampfungspunkte haben, wird offenbar für eine optimale Wirkung neben der zu vaporisierenden Sorte auch die eingestellte Temperatur wichtig. So führt ein Befragter exemplarisch aus, seine Spasmen würden »deutlich weniger auf höheren Temperaturen« der Cannabis-Verbrennung.
Es scheint offensichtlich, dass Patient*innen umfängliche Strategien entwickeln – mit dem Ziel, unerwünschte Wirkungen zu vermeiden, die heilsamen Effekte zu verstärken und ihren Cannabisgebrauch optimal mit ihrem Alltag zu vereinbaren. Diese Strategien umfassen neben dem bereits Genannten detaillierte Angaben zu befindlichkeitsabhängigen Dosierungen, unterstützenden Einstellungen und Intentionen (situativ und übersituativ), Ritualisierungen und zu konkreten Erfahrungswerten bezüglich des genauen Zeitpunktes der Einnahme. Um ihren Konsum mit den Anforderungen des Alltags zu vereinbaren, etwa besonders anspruchs- oder verantwortungsvollen Tätigkeiten wie Kinderbetreuung oder dem Führen einer Maschine, setzen manche Befragte zum Beispiel auf »Punktnüchternheit« oder »Microdosierungen«. Es gehe darum, »zu differenzieren, welche Aufgaben ich mir unter dem Einfluss zumuten kann und welche Aufgaben ich am besten ohne erledigen sollte«, wie eine Befragte es formuliert.
Zwar berichten einige Patient*innen auch über unerwünschte Nebenwirkungen des Cannabiskonsums, vor allem Verwirrungszustände, Vergesslichkeit und Trägheit. Gerade in Bezug auf den medizinischen Nutzen wird jedoch eingeschätzt, dass diese Nebenwirkungen im Verhältnis zu den Nebenwirkungen vieler Schmerzmittel oder Psychopharmaka als tolerierbar zu betrachten sind. Besonders Patient*innen mit langer Leidensgeschichte und ehemals starker Medikamentierung erleben teilweise umfängliche gesundheitliche Verbesserungen. »Ich habe vorher einen Koffer voller Medizin gehabt«, erzählt eine Befragte, »Medizin gegen die Nebenwirkungen der Nebenwirkungen der Nebenwirkungen. Jetzt nehme ich nur noch meine (…) Hormone und Cannabis. Ich nehme keine Schmerzmittel mehr, keine Opiate mehr, keine Benzodiazepine mehr. (…) Keine Schmerzen zu spüren, aber dafür nichts mehr wahrzunehmen, ist auch keine Alternative.«
Ausblick
Der kleine Blick auf ausgewählte Ergebnisse der Forschung an der Hochschule Merseburg unterstreicht: Das Dunkelfeld selbstinitiierter Behandlungen und Selbstmedikation ist wahrscheinlich weit größer als bisher angenommen. Von einer Wertschätzung dieses Wissens profitiert nicht nur die Schulmedizin. Vielmehr wird die geplante legalisierte Abgabe von Cannabis auch jenen Patient*innen helfen, die bisher an den hohen Auflagen gescheitert sind, die sie für eine offizielle Genehmigung zu einer Cannabistherapie zu erbringen haben. Unter den neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen werden diese Menschen sich eigenständig mit einem Mittel versorgen können, das ihre Krankheits- und Leidenszustände lindern, mildern oder sogar auflösen und ihnen zu mehr Lebensqualität verhelfen kann.
Das entlastet auf der einen Seite die verschreibenden Ärzt*innen, denen bisher immer die Stigmatisierung als »Dealer in Weiß für Kiffer« droht, die nur den profanen Genuss anstreben. Auf der anderen Seite fordert die neue Situation aber, dass Wissen und Erfahrungen umfänglich und einfach für alle Nachfragenden zugänglich gemacht werden, die eigenständig auf der Suche nach Lösungen sind. Hierzu könnte die Datenbank INDICA einen wichtigen Beitrag leisten – insbesondere, wenn sie in der nächsten Ausbaustufe allen Informationssuchenden eine Recherche zu Fallberichten erlauben wird.
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