Einsam im digitalen Kosmos

Der Medienkünstler Jon Rafman zeigt im Berliner Schinkel-Pavillon schauderhaft-nostalgische Welten aus alten Videospieldesigns

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 6 Min.
Mamas Albtraum: Jon Rafman lässt Zockerzimmer aus den 90ern auferstehen.
Mamas Albtraum: Jon Rafman lässt Zockerzimmer aus den 90ern auferstehen.

Berlins Mitte wurde in den 90ern »historisch rekonstruiert«. Um die deutsche Geschichte unter den Teppich zu kehren, baute und sanierte man eifrig eine Art Preußen-Themenpark, der fast flächendeckend privatisiertes Gebiet ist. Menschen ohne touristisches Interesse, Konsum- oder Lohnarbeitsabsicht wirken in der Friedrichstadt eher deplatziert.

In einem Pavillon am Park des Kronprinzenpalais, wo Erich Honecker zu DDR-Zeiten Cocktailpartys ausrichten ließ, ist ein Kunstverein ansässig, der sich wie das Gebäude Schinkel-Pavillon nennt. Am 15. September konnte man hier Dutzende coole Kids, wie frisch geschlüpft aus dem Internet, beobachten, wie sie vor dem Eingang eine lange Schlange bildeten, um dann drinnen schwitzend im Dunklen vor Videos zu sitzen. Videos, die aussehen wie Computerspiele aus der Zeit, in der die jungen Besucherinnen und Besucher noch Kinder waren.

Es ist die Eröffnung der Ausstellung »Egregors and Grimoires« des US-Künstlers Jon Rafman: Der Titel bezeichnet metaphysische Wesen, die Menschen kollektiv halluzinieren, und Zauberbücher, in denen etwa Sprüche zum Heraufbeschwören solcher Gestalten zu finden sind. Im Zeitalter der Digitalisierung aller möglichen Lebensbereiche in einer vollends aufgeklärten oder sedierten Gesellschaft kehren so in Rafmans Kosmos Mythenfiguren durch Massenpsychosen wieder. Die Computerzauberei virtueller Welten geht dabei immer mehr in die Realität über.

Berühmt wurde Rafman unter anderem durch indiskrete und traurige Bilder von Google Earth, die er auf einem Blog sammelte und die man sich noch immer im Internet anschauen kann (www.9-eyes.com). Außerdem verfilmte er seine Traumtagebücher mithilfe gemeinfreier 3-Programme und schickte »Kool-Aid-Man«, das Maskottchen der Getränkemarke Kool Aid, in die virtuelle Welt »Second Life«, in der normalerweise nur Spieler hinter menschlichen Avataren miteinander interagieren.

Wer dieser Tage das Erdgeschoss des Schinkel-Pavillons betritt, kann sich zunächst ein Ausstellungsposter fürs Jugendzimmer schnappen und starrt dann auf eine große Abbildung, die Mamas Albtraum wahr werden lässt: Ein vermüllter Tisch mit Bildschirm und Tastatur, alles ist voller Verpackungen elektronischer Unterhaltungsmedien, Actionfiguren, Kippenresten und Fastfood-Kartons. Ein Wimmelbild von bunten Markenschriftzügen sowie Zeichen von Verwahrlosung und der prekären Gedankenallmacht, die Menschen ergreift, die von ihren Computer gefangen genommen worden sind.

Auf der Rückseite des Wimmelbilds läuft das erste Highlight der Ausstellung, die Videoarbeit »Punctured Sky«. Ein Erzähler, dessen Körper wir nie zu Gesicht bekommen, begibt sich nach einem Treffen mit einem schwerkranken ehemaligen Freund, vielleicht seinem einzigen, auf die Suche nach einem Online-Rollenspiel, mit dem die beiden unzählige erfüllte Stunden in ihrer Jugend verbracht haben. Aber »Punctured Sky«, so auch der Titel des Spiels, lässt sich nicht finden. Kein Zockerforum kann helfen, keine alte Spieledatenbank kennt es, der Erzähler fühlt sich »gaslit by the universe«, vom Universum hinters Licht geführt.

Dann erreicht ihn die Nachricht eines Forumnutzers, der sich mit ihm in der Mehr-Spieler-Onlineversion des Gangster-Epos »GTA IV« treffen will. Dort, in der Welt von »GTA IV«, ballert er dem Protagonisten mit einer Maschinenpistole die Adresse eines Gewerbeparks auf einen Container.

Rafman hat eine Welt gebaut, in der sich der unsichtbare Protagonist durch Standbilder fortbewegt. Die Welt ist 2D und in eher schlechter Auflösung. Man scheint sich darin selten zu begegnen – wenn, dann in Internet-Cafés, Läden für Gamer oder auf Parkplätzen. Die Menschen haben Schweinenasen, Bewegungen sind Zappelei. Jede Stimme klingt, als ob sie mit großer Erschöpfung ein Script abliest. Die Jagd nach der verlorenen Erfahrung spielerischer Vollbeschäftigung in einem Rollenspiel findet in einer Welt aus Abziehbildern und schludrigen Kulissen statt, die in den 90ern state of the art waren. Es wirkt, als ob die Motive von digitaler Einsamkeit und einer verzockten Incel-Jugend so schäbig sind, dass ihnen nur veraltete Technik angemessen ist – und die bringt auch eine Art digitale Nostalgie mit sich: Man hatte vielleicht in Spielumgebungen, die auf ganz ähnlichen technischen Voraussetzungen fußten, mal Spaß.

In einem engen Gang des Schinkel-Pavillons hängt ein Triptychon Rafmans, auf dem abwechselnd Bilderfunde aus den Untiefen des Internets zu sehen sind. Ekel und Schaulaust, christlicher Bildaufbau und der ruhige Wechselcharakter von Videowerbeflächen werden hier eins. Die zweite große Videoarbeit, die länger als eine Stunde dauert, ist »Minor Daemon (Vol. 1)«. Wir verfolgen die Geschichte zweier Buben, die im selben Knast landen: Billy ist das ungeplante Kind eines Gangsterbosses und lässt aus Versehen bei einer dionysischen Spring-Break-Party einen Gast von einem Stier aufspießen; Minor Daemon selbst kommt in einem Schlachthaus zur Welt, wird von einer Kinderfängerin aus dem Müll gefischt und an einen alten Schnösel vertickt, der Kinder für eine Art brutales Virtual-Reality-Quidditch abrichtet.

Dieser Gladiatorenkampf bringt die Jungs im Knast zusammen, wo sie gemeinsam versuchen, sich aus der Gefangenschaft zu befreien, was misslingt und zu Tod und Teufel führt. In diesem postapokalyptischen Coming-of-Age-Film, der wie Videospiele der mittleren nuller Jahre aussieht, wird pausenlos gekotzt, geschissen, gefickt, gemetzelt. Bis man sich irgendwann dran gewöhnt hat und einem relativ konsistenten Plot folgt, in dem Väter ermordet werden wie bei Ödipus und Gesichter transplantiert wie im Film »Face/Off«.

Da Rafmans Werke nicht ganz auf der Höhe der Technik ihrer Zeit sind, bilden sie auf abstoßende und dabei todtraurige Weise etwas Verfallendes, Vergängliches ab: Die Animationsprogramme und Spiele-Engines der Kindheit derer, die diese Videos heute sehen dürften, gehören zum alten Eisen. Die schrottreife vorletzte Konsolen-Generation bietet Heimat nur noch für aussätzige Zwischenwesen. Die Lebenswelten sind atomisiert, zwischenmenschliche Verhältnisse sind ein Witz.

Ohne explizit mit Fingerzeig politische Themen anzugehen, bieten Rafmans Videowelten Einblick in die Vorhölle einer durchdigitalisierten Konsumgesellschaft, die sich mit Ersatzorgien selbst stillstellt. Sex findet in »Punctured Sky« in den Toiletten vergifteter Keller halb leerer Bürokomplexe statt; die Jugendliebe von Billy aus »Minor Daemon (Vol. 1)« prostituiert sich später als Domina für bein- und armamputierte alte Männer, die in Latexkostümen Hund spielen wollen. Wer dann nach einem Besuch im Schinkel-Pavillon durch das fast menschenleere Berlin-Mitte spaziert, kann sich entweder dabei ertappen, vorbeilaufende Nachtschwärmer für Videospielfiguren zu halten. Oder man kann die Frage stellen, ob es Rafman nicht doch ein wenig anzukreiden wäre, dass er die eigenen Bilderhöllen nicht einmal versuchsweise bricht und es sich stattdessen in Schock, Stumpfheit und Entfremdung fast schon gemütlich macht.

Jon Rafman, »Egregors and Grimoires«, bis zum 31. Dezember, Schinkel-Pavillon, Berlin.

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