Auf zum Klassenverrat!

Das Leben der 1941 geborenen US-Amerikanerin Barbara Ehrenreich war geprägt von politischem Aktivismus und marxistischer Gesellschaftsanalyse. Unter anderem kritisierte sie neoliberale Arbeitsverhältnisse. Ein Nachruf

  • Robert Heinze
  • Lesedauer: 8 Min.
Barbara Ehrenreich auf einer Pressekonferenz zu den Rechten von Hausangestellten, New York City 2009
Barbara Ehrenreich auf einer Pressekonferenz zu den Rechten von Hausangestellten, New York City 2009

Am 1. September 2022 starb Barbara Ehrenreich. In Deutschland erschienen nur wenige kurze Nachrufe, die vor allem auf ihre bekannten Arbeiten zu prekärer Arbeit und zur Wellness-Industrie abstellten. US-amerikanische Linke ehrten sie als kritische Theoretikerin der Mittelklasse, doch ihre Bedeutung geht darüber noch hinaus. Weltweit bekannt wurde Ehrenreich 2001 durch ihr Buch »Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft«. Über mehrere Monate hinweg hatte sie sich in Jobs zum Mindestlohn verdingt, um zu erkunden, wie man damit über die Runden kommen konnte. Das Ergebnis: Man konnte es nicht – sie musste Zweitjobs aufnehmen. Aber Ehrenreich zeigte zugleich, dass diese Jobs alles andere als »ungelernte« Arbeitskräfte erforderten, sondern eine Menge an speziellen Fähigkeiten und intellektuellem Aufwand voraussetzten.

Arm trotz Arbeit

Mitten in der ersten großen Börsenkrise des 21. Jahrhunderts, der »dot-com bubble«, zeigte Ehrenreich mit ihrer Arbeit die Auswirkungen der Sozialgesetze, die 1996 von der Clinton-Administration – noch in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs – beschlossen worden waren: jene Sozialgesetze, die für die 2001 in Deutschland beschlossenen Hartz 4-Reformen Stichworte wie das vom »aktivierenden Sozialstaat« lieferten. Ihr Buch ist oft als investigativer Journalismus gelesen worden, aber es leistet auch die Untersuchung einer Klassengesellschaft zu einer Zeit, als das Wort außerhalb marxistischer Kreise selten benutzt wurde. Außerdem begründete es Ehrenreichs jahrelangen Aktivismus in der Bewegung für eine Verdopplung des Mindestlohns in den USA.

In einer eindrücklichen Passage am Schluss von »Arbeit poor« zeigt die Autorin, wie wir alle in diese Zusammenhänge eingebunden sind und was Entfremdung und Ausbeutung der Arbeit tatsächlich heißt: »Wenn jemand für einen Lohn arbeitet, der nicht zum Leben reicht, wenn zum Beispiel eine Serviererin hungrig zu Bett geht, damit du billiger und angenehmer essen kannst, dann hat sie ein großes Opfer für dich gebracht. Sie hat dir ein Geschenk gemacht, hat dir einen Teil ihrer Fähigkeiten, ihrer Gesundheit, ihres Lebens abgegeben. Die ›working poor‹, wie man sie wohlwollend nennt, sind in Wirklichkeit die größten Philanthropen unserer Gesellschaft. (…) Sie nehmen Not und Entbehrungen hin, damit die Inflationsrate sinkt und die Aktienkurse steigen. Wer zu den ›working poor‹ gehört, ist ein anonymer Spender, ein namenloser Wohltäter – zugunsten aller anderen.«

Es ist diese unauflösbare Verbindung von akademisch-theoretischem Unterbau, journalistischer Recherche und entsprechend zugänglichem Schreibstil sowie einer aktivistischen Perspektive, die Ehrenreichs Werk auszeichnet. Dazu gehörte auch ihre Selbstpositionierung. In ihren Büchern thematisierte sie immer auch ihr eigenes Verhältnis zu ihrem Untersuchungsgegenstand: als Frau, die selbst den Schikanen eines patriarchalen Gesundheitssystems unterworfen war; als Angehörige der Mittelklasse, die radikale linke Politik machte; als Feministin, die über die Konstruktion von Männlichkeit schrieb; und als Brustkrebspatientin mit einem analytischen Blick auf die zersetzende Wirkung des »Positive Thinking« und die Weigerung, über den Tod nachzudenken. Damit zwang sie auch ihre Leser*innen dazu, ihr eigenes Verhältnis zu dem Gelesenen zu bestimmen.

Eine neue Klassenanalyse

Ehrenreich war promovierte Biologin. Sie stammte aus einer Familie der Arbeiterklasse; der soziale Aufstieg gelang ihrem Vater, einem Minenarbeiter, durch ein Gewerkschaftsprogramm, das ihm ein Studium ermöglichte. Ehrenreich war sich ihrer Herkunft ebenso klar bewusst wie ihrer eigenen Position und der ihrer Mitstreiter*innen aus den neuen linken Bewegungen im Zuge von »68«. In einem 1977 erschienenen Aufsatz entwickelte sie gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann John den Begriff der »professional-managerial class« (PMC), um mit der Tatsache umzugehen, dass der größte Teil der Neuen Linken sich aus den Universitäten rekrutierte, also der Träger des politischen Radikalismus nicht mehr die Arbeiterklasse, sondern die Mittelklasse war. Als dieser Aufsatz veröffentlicht wurde, hatte sie schon mehr als eine Dekade der Radikalisierung hinter sich.

Nach ihrer Promotion arbeitete sie in verschiedenen Funktionen im Bereich der Gesundheitspolitik, zuerst in der New Yorker Finanzbehörde, dann in einer linken NGO, schließlich als Professorin für Gesundheitswissenschaften an der State University of New York – nicht zufällig bewegte sie sich hier schon zwischen Praxis, Akademie und Aktivismus. An der Universität begann sie zu schreiben, zunächst mit Deirdre English über das amerikanische Gesundheitssystem und seine Frauenfeindlichkeit. Ihr Buch über die historische Verdrängung von Frauen aus dem Gesundheitswesen während der Hexenverfolgung (»Witches, Midwives and Nurses: A History of Women Healers«) wurde von den Feministinnen der Zweiten Frauenbewegung viel gelesen. Die Lektüre inspirierte unter anderem auch die Marxistin Silvia Federici, welche Ehrenreichs These noch ausbaute und in ihrem berühmten Werk »Caliban und die Hexe« mit der Entstehung von Kapitalismus und Kolonialismus verband. Allerdings brachten die Frustration mit dem akademischen Betrieb sowie der Erfolg ihrer Bücher Ehrenreich schließlich dazu, die Universität zu verlassen und sich ganz dem Schreiben zu widmen.

In Deutschland sind vor allem ihre späteren Werke bekannt, die das Elend der Mindestlöhner*innen oder die Geschichte und destruktiven Auswirkungen des Positive Thinking behandeln. In der US-amerikanischen Linken dagegen gelangten ihre Arbeiten zur Mittelschicht in jüngster Zeit zu neuer Bekanntheit, nachdem Rechte versucht hatten, den Begriff zur Denunziation der angeblich vorherrschenden, von der Arbeiterklasse entfremdeten »linken Elite« in Medien und Politik zu nutzen. Dabei ermögliche das Konzept der PMC eine wesentlich komplexere Analyse: Barbara Ehrenreich und ihr erster Ehemann John Ehrenreich hatten den Begriff entwickelt, weil die in den 1970er Jahren existierende marxistische Literatur nur sehr unzureichende Analysen zur Mittelklasse aufzuweisen hatte. Die PMC könne nicht einfach als Teil oder Auswuchs der Arbeiterklasse analysiert werden, da sie in einer »objektiv antagonistischen Beziehung« zu dieser stünde; auch vom Kleinbürgertum, das in keiner besonderen Beziehung zu den anderen Klassen stünde, sei sie klar unterschieden.

Die PMC sei vielmehr durch ihre besondere Funktion in der Reproduktion hochentwickelter kapitalistischer Klassenverhältnisse und Kultur bestimmt. Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen oder Medienarbeiter*innen seien eine Verkörperung davon, aber auch Manager*innen, Ingenieur*innen und Jurist*innen gehörten dazu. Das mache sie zu einer klar umrissenen Gruppe innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Gleichzeitig seien die Grenzen zu anderen Klassen fließend, insbesondere zur Arbeiterklasse, da Berufe in der PMC selbst der ständigen Gefahr des »de-skilling« unterworfen sind: der Rationalisierung vorheriger Aufgaben, die spezielle Ausbildungen erforderten, zu kleineren, routinisierten Funktionen mit wenig Voraussetzung. Von dieser ökonomischen Abwärtsmobilität seien insbesondere Frauen bedroht.

Das Versäumnis der Neuen Linken

Ihre besondere Stellung im kapitalistischen System, argumentieren die Ehrenreichs, macht die PMC zu einer sozialen Gruppe, die zum einen unentbehrliche Stütze dieses Systems ist – in der Ideologieproduktion, in den Staatsapparaten, in der Disziplinierung durch Schule oder im Gesundheitssystem. Zum anderen beinhalte sie aber auch das Potenzial zur Radikalisierung, da sie nicht nur in einem grundsätzlichen Antagonismus zur Arbeiterklasse, sondern auch zur Bourgeoisie stünden. 

Die Entwicklung der Neuen Linken, die sich zum größten Teil aus der PMC rekrutierte, diente den Ehrenreichs als Beispiel für diese spezielle Mixtur aus Elitismus gegenüber der Arbeiterklasse und antikapitalistischer Militanz, die viele Linke – vor allem als sie in Kontakt mit der Arbeiter- und der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung kamen – schließlich in Opposition zu ihrer eigenen Klasse brachte.

Eine erfolgreiche linke Bewegung, argumentierten sie, müsse sich dieser spezifischen Position bewusst werden; das tat die »New Left« am Ende nicht. In mehreren Büchern und Aufsätzen begleitete Ehrenreich später konsequenterweise den Niedergang der »professional-managerial class« im Neoliberalismus, in dem diese zugleich ausgeweitet und immer mehr prekarisiert wurde; zuletzt in einer Bilanz, die sie wieder gemeinsam mit ihrem dann Ex-Ehemann John verfasste. Der Text erschien in Deutschland unter dem Titel »Tod eines Yuppie-Traums. Aufstieg und Fall der freien Berufe«; im Vorwort zur deutschen Übersetzung nannten Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg das PMC-Modell »eine Klassenanalyse fürs 21. Jahrhundert«.

Feministische Fundierung des Werks

Wer Barbara Ehrenreichs Bücher aufmerksam liest, wird diese Analyse immer wieder darin vorfinden, aber vermittelt durch ihre Erzählkraft und Ehrenreichs Selbstbeobachtung. Ihre Sensibilität für die Menschen, über die sie berichtet, sowie ihre Fähigkeit, ihre eigene Rolle zu reflektieren und die Leser*in dazu zu bringen, ebenfalls ihre eigene Position zu bedenken, zeichnen Ehrenreichs Texte aus. Dabei sind ihre Analysen auch fundiert durch einen marxistisch informierten Feminismus, den sie bereits in ihrer frühen Schaffenszeit entwickelte – und aus dem auch ihre Sensibilität für die globale Dimension der Ausbeutung insbesondere in Care-Berufen, Dienstleistungsberufen und der Sexarbeit hervorging. Damit bildet Ehrenreichs Werk, so stellten amerikanische Nachrufe fest, auch ein Scharnier zwischen der »New Left« der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den neueren linken Bewegungen des 21. Jahrhunderts von Occupy Wall Street bis zum Aufstieg von Bernie Sanders und den Democratic Socialists of America.

Die »PMC-Linke«, schrieb Ehrenreich, müsse sich den subjektiven und kulturellen Aspekten der Klassenunterdrückung ebenso widmen wie den materiellen Ungleichheiten; sie müsse ihren eigenen internalisierten, subtilen Elitismus aufarbeiten, um Allianzen mit dem Proletariat zu ermöglichen. Ehrenreichs eigenes Leben und Werk bleiben dafür ein wichtiges Vorbild: ihr journalistisches Schaffen, ihre Analysen, ihre Sensibilität für die katastrophalen individuellen Konsequenzen gesellschaftlicher Verwertungsprozesse und politischer Entscheidungen im Kapitalismus sowie ihre selbstverständliche Verbindung von Theorie und Aktivismus. All dies hat Relevanz auch für die Linke außerhalb der USA, wenn sie empfänglich für gesellschaftliche Entwicklungen und radikale Kämpfe bleiben will.

Zum Weiterlesen:
Deirdre English und Barbara Ehrenreich:
Hexen, Hebammen und Krankenschwestern.
Verlag Frauenoffensive 1975.
Barbara Ehrenreich: Angst vor dem Absturz.
Das Dilemma der Mittelklasse
.
Verlag Antje Kunstmann 1992.
Dies.: Arbeit poor. Unterwegs in der
Dienstleistungsgesellschaft
.
Verlag Antje Kunstmann 2001.
Dies.: Wollen wir ewig leben?
Die Wellness-Epidemie, die Gewissheit des Todes und unsere Illusion von Kontrolle
.
Verlag Antje Kunstmann 2018.

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