Und nun zum englischen Wetter

Beth Orton ist eine Künstlerin voller Widersprüche – vielleicht ist deshalb ihr neues Album »Weather Alive« so großartig

  • Jan Paersch
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Musikerin ließ sich für ihre neue Platte von der Natur im englischen Suffolk inspirieren.
Die Musikerin ließ sich für ihre neue Platte von der Natur im englischen Suffolk inspirieren.

Es ist eine Binsenweisheit: Die wirklich einflussreichen Künstler*innen entwickeln ihren Sound stetig weiter. Würden heute Hähne nach Madonna krähen, klänge sie noch wie auf »Like a Virgin«? Hätte David Bowies 2013er Comeback irgendjemanden interessiert, wenn er noch als Ziggy Stardust verkleidet herumgelaufen wäre?

Beth Orton hat immer in zwei Bekanntheits-Ligen unter solchen Megastars operiert. Aufmerksamkeit bekam sie einst mit etwas, das von den Medien in den späten 90ern »Folktronica« getauft wurde – eine sensible, in sich gekehrte Singer-Songwriter-Musik, die sich am British Folk der 60er orientierte und die, angereichert mit elektronischen Beats, eine junge »Chill-out«-Zielgruppe erreichte.

Orton, 1970 im ostenglischen Norfolk geboren, hat sich mit diesem Sound nie völlig identifiziert und ihn von Album zu Album variiert. Es gab ihre Synthie-Pop-, ihre Americana- und ihre Country-Platte. Ein echter Hit wurde keine davon.

Nun, im Herbst 2022, sitzt die Musikerin dem Autor gegenüber, und es scheint, als ob sie sich entschuldigen wolle – für ihre Stimme, die sich verändert hat. »Ich habe manchmal immer noch das Gefühl, eine Enttäuschung zu sein«, sagt Orton, die mit Chucks und blauem Arbeitsoverall auch mit über 50 mädchenhaft fragil wirkt. »Aber so klingt meine Stimme eben heute! Es tut mir leid, dass die Dinge sich verändert haben. Es tut mir leid, dass ich älter bin, dass ich nicht süß bin. Und dass meine Stimme anders klingt als früher.«

Orton starrt zu Boden; sie ist eine hektische Erzählerin, die sich ständig selbst unterbricht und zuweilen in der dritten Person von sich spricht. Ungläubiges Staunen beim Autor: »Entschuldigen Sie sich bei mir?« Ortons Stimmung wechselt abrupt, sie lacht laut: »Ach Quatsch, es tut mir kein bisschen leid. Ich liebe mein Leben. Ich bin viel furchtloser geworden. Nie hätte ich gedacht, dass ich mit 50 noch so kreativ sein würde.«

Ein Resultat langwieriger kreativer Prozesse: das neue Album »Weather Alive«, ihr erstes seit sechs Jahren – und das erste von ihr selbst produzierte. Und das erste, das sich jeder Genre-Zuschreibung entzieht. Bekannte englische Jazzmusiker wie der Schlagzeuger Tom Skinner oder Alabaster DePlume mit seinem äthiopisch anmutenden Saxofon prägen den Sound. Refrains und Strophen sind kaum erkennbar, acht Songs mäandern über hypnotischen Grooves dahin.

»Ich wusste, welche Musik ich hören wollte«, so Orton, im Büro ihrer Plattenfirma in Hamburg sitzend. »Aber ich konnte sie nicht finden, also musste ich sie selbst machen. Die neuen Stücke nahmen auf dem Klavier Gestalt an, mit ganz einfachen Ein- oder Zwei-Akkord-Mustern. So sind diese modalen, minimalistischen Songs entstanden.«

»Weather Alive« hat Folk- und Jazz-Einflüsse; die Tindersticks oder Nick Drake lassen sich erahnen. Ähnlich wichtig: die Klangästhetik einer erfolgreichen britischen Synth-Pop-Band. Mitte der 80er hatten sich Talk Talk von Hits wie »Such a Shame« verabschiedet und zu einem düsteren Art-Rock gefunden – dieser flächige Keyboard-Sound mit viel Hall und Platz für eine ausdrucksstarke Stimme muss auch in Beth Orton Resonanz gefunden haben. Fast alle Songs auf »Weather Alive« sind über fünf Minuten lang; Ortons Stimme schwebt zu geklöppeltem Schlagzeug und hüpfendem Bass durch weite Klangräume, die in den Texten ihre Entsprechung finden. »The world is falling from my hands«, flüstert die Künstlerin, »It almost makes me wanna cry, the weather’s so beautiful outside«.

Naturmystik findet sich in fast jedem Song: Orton singt von Flüssen, Gewässern und Stürmen, ohne dass diese Kräfte je zur Bedrohung werden. »There’s a world outside of you and me« – die Natur als Ort der Besinnung auf das Essenzielle, aber auch als Kraftzentrum, das alle anderen überragt. »Nature’s got a bigger gun than anyone« heißt es im brillanten »Haunted Satellite«, auf dem Lou Reeds Bassist Shahzad Ismaily entscheidend am fragilen Klangbild feilte.

Mit den verrätselten Texten verarbeitete Beth Orton auch private Traumata wie den frühen Verlust ihrer Mutter. Die Nullerjahre waren hart für die Britin: Das viele Touren und der damit verbundene Substanzmissbrauch zermürbten sie, sie trennte sich vom Vater ihrer Tochter und kämpfte mit einer chronischen Darmerkrankung.

Nach Jahren in den USA zog sie 2015 zurück in ihre englische Heimat und erholte sich. Ein Stipendium ermöglichte es ihr, sich inmitten der ostenglischen Countryside ganz auf ihre Kunst zu konzentrieren und die Songs für »Weather Alive« zu schreiben. »Der Komponist Benjamin Britten hatte zu Lebzeiten ein Haus in Suffolk, da konnte ich eine Weile lang arbeiten. Ich unternahm lange Spaziergänge und musste dabei weinen. Es war so fucking beautiful! Zurück nach England zu ziehen, hat mir geholfen, eine Verbindung zur Natur aufzubauen. Das war wichtig für die Platte.«

Eine Karriere als Sängerin war Beth Orton undenkbar erschienen, bis sie William Orbit traf – den Produzenten, der Madonnas Sound in den späten 90ern prägen sollte. »Als ich 19 war, starb meine Mutter. In den Jahren danach habe ich all diese Dinge getan, vor denen ich vorher Angst gehabt hatte. Öffentlich zu singen, gehörte dazu. Mit einer experimentellen Theatergruppe gab ich Rimbaud und entschied, eines seiner Gedichte zu singen. William Orbit hörte das und lud mich ins Studio ein: Ich sollte einfach vorbeikommen und singen. Ich war ziemlich high und summte nur mit den Songs mit. Daraus wurden dann langsam Worte. So wurde ich eine Sängerin.«

Es folgten Gastauftritte für die Big-Beat-Pioniere Chemical Brothers – auf deren Hitalbum »Dig your own hole« sang sie 1997 das bemerkenswerte »Where do I begin«. Es folgte ihr Durchbruch mit dem Album »Central Reservation«. Elektronische Beats mit zarten Stimmen zu paaren, war das Erfolgsgeheimnis des Genres »Folktronica« – ein Begriff, den die Künstlerin immer gehasst hat: »Es mag sein, dass meine Musik zu etwas geworden ist, das heute in Cafés im Hintergrund läuft. Aber damals war es die aufrichtige Ausdrucksform einer jungen Frau, die sich durch Songs äußerte. Das war alles, was ich kannte! Ich bin stolz darauf, und ich verteidige es, weil diese Songs meine Kinder sind.«

Beth Orton ist nicht mehr die Frau von damals. Ihre Stimme hat zwar kaum etwas von der hellen Tonalität verloren, wirkt noch immer leicht nasal. Doch nun klingt sie so, wie es ihre neuen Songs verlangen – älter, zerbrechlicher, aber auch intensiver. Es sind die Widersprüche, die »Weather Alive« so großartig machen: das tief melancholische Klavier, das auf jazzige Grooves trifft, die erschöpfte Late-Night-Atmosphäre, die doch Wärme und Trost spendet. Orton bestätigt den therapeutischen Charakter des Songwritings: »Am Klavier habe ich Zuspruch gefunden, das Spielen erdet mich. Es ist eine Konversation, die mir hilft, wenn ich einsam bin. Musik ist eine Meditation.«

Beth Orton: »Weather Alive« (Partisan Records)

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