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Das Unbekannte besser therapieren
Bundesärztekammer fordert mehr Anstrengungen beim Umgang mit Post Covid
»Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, politisch aktiv zu werden und die Weichen für den weiteren Umgang mit dem Post-Covid-Syndrom (PCS) zu stellen«, sagt Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer. »Darauf haben insbesondere die Betroffenen einen Anspruch.« Mit einer am Dienstag veröffentlichten Stellungnahme möchte die Spitzenorganisation der ärztlichen Selbstverwaltung Druck auf die politischen Stellen ausüben.
Zur Corona-Pandemie ist in den vergangenen Jahren extrem viel geforscht worden. Es wurden zahlreiche Erkenntnisse über die Infektionskrankheit gewonnen, doch der große Bereich Post-Covid ist nach wie vor mit vielen Fragezeichen versehen. Bisher ist nicht verstanden worden, welche Wirkungsweise PCS auslöst und was dabei im Körper genau passiert. Zu den Erklärungsversuchen gehören eine überschießende Autoimmunreaktion, eine anhaltende Entzündung oder Virusbefall, Gefäßveränderungen und ein Befall der Nervenzellen. Da die Ursache im Nebel liegt und es auch keine geeignete Diagnosemöglichkeit gibt, können bei der Therapie nur Symptome bekämpft werden. Diese sind wiederum extrem uneinheitlich. Mehr als 60 verschiedene Symptome wurden bisher beobachtet, eine niederländische Studie spricht sogar von 200. Dazu zählen Erschöpfung, Husten, Kurzatmigkeit, Geschmacks- und Geruchsverlust sowie Depressionen. Verschiedenste Organe wie Lunge, kardiovaskuläres System, Haut, Psyche oder Gehirn können betroffen sein.
Immerhin hat die Weltgesundheitsorganisation im Oktober 2021 quasi ein international gültiges Machtwort gesprochen und nach klinischer Analyse eine Definition festgelegt: Demnach werden »unter dem Begriff Post-Covid-19-Zustand gesundheitliche Beschwerden zusammengefasst, die in der Regel drei Monate nach der Infektion mit Symptomen bestehen, die mindestens zwei Monate anhalten und nicht durch eine andere Diagnose erklärt werden können«. Und die Symptome können demnach nach anfänglicher Genesung neu auftreten. Eher umgangssprachlich wird auch noch der Begriff Long Covid verwendet für Symptome, die vier Wochen nach der Covid-Erkrankung noch nicht abgeklungen sind. Dies ist auch von anderen Infektionskrankheiten bekannt.
Auch konkrete Zahlen zu Betroffenen sind mit großen Unsicherheiten behaftet. In den Meldedaten werden Todesfälle, Hospitalisierungen und intensivmedizinische Behandlungen der Sars-CoV-2-Infektion erfasst, nicht aber das Post-Covid-Syndrom. Die Bundesärztekammer verweist auf Studien, laut denen bis zu 15 Prozent der mit Sars-CoV-2 Infizierten ein PCS entwickeln. Für Deutschland würde dies mehrere Hunderttausend Betroffene bedeuten. Diese Zahlen werden in der Stellungnahme genannt, für die der wissenschaftliche Beirat der Organisation Hunderte Studien zum Thema ausgewertet hat. Das 43-seitige Papier gibt Ärztinnen und Ärzten einen umfassenden Überblick zu bisher bekannten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen etwa hinsichtlich Pathogenese oder Therapie an die Hand. So könnten aktive Rehamaßnahmen nützlich sein. Bisher werden viele Mediziner mit Post-Covid-Symptomen konfrontiert, ohne genau zu wissen, wie sie damit umgehen sollen.
Die Ärztekammer stellt darüber hinaus Forderungen bezüglich Forschungsschwerpunkte und notwendiger Veränderungen in regionalen Versorgungsstrukturen, was auch die Bereitstellung finanzieller Mittel beinhaltet. »Um die Betroffenen möglichst optimal betreuen zu können, ist ein interdisziplinäres Vorgehen notwendig«, erläutert Kammerchef Reinhardt. Er regt etwa die Gründung weiterer Post-Covid-19-Zentren an. Bislang sei es nämlich für viele Patienten »schwierig, kompetente Anlaufstellen zu finden«. Ferner brauche es Informationskampagnen über das PCS, eine entsprechende Fortbildung von ärztlichem und anderem medizinischem Personal, aber auch eine umfassende Aufklärung der Betroffenen und der Allgemeinbevölkerung. Ähnliche Empfehlungen wie die Ärztekammer hatten zuvor auch der Corona-Expertenrat der Bundesregierung und die interministerielle Arbeitsgruppe Long Covid gegeben.
Wie es mit PCS im Pandemieverlauf weitergehen wird, ist unklar. Auf der einen Seite könnte die hohe Zahl an Infektionen durch die Omikron-Varianten auf eine Zunahme des Problems hindeuten. Auf der anderen Seite gibt es Hinweise darauf, dass Post Covid bei Omikron seltener vorkommt und auch der verbesserte Immunstatus durch Impfung oder/und Genesung die Ausbreitung bremst.
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