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Fatih Akin:»Ich bin ›Kanak‹, ich bin nicht Mehrheitsgesellschaft«
Regisseur Fatih Akin über seinen neuen Film »Rheingold«
Das Drama »Rheingold« basiert auf dem autobiografischen Roman »Alles oder Nix. Bei uns sagt man, die Welt gehört dir« des Rappers Giwar Hajabi. In der Rap-Szene ist er unter seinem Künstlernamen Xatar bekannt – auf Kurdisch, Persisch und Arabisch steht das Wort für »Gefahr«.
Giwar Hajabi wurde 1981 in Sanandadsch in der iranischen Provinz Kordestan geboren. Mit seinen Eltern floh er Anfang der 80er Jahre über den Irak nach Deutschland. Seine Eltern kamen im Irak während des Iran-Irak-Kriegs in Haft, und so verbrachte er mit drei Jahren einige Monate mit ihnen im Gefängnis. In Deutschland bekam er Klavierunterricht und entdeckte dann seine Leidenschaft für Hip-Hop. 2009 überfiel Hajabi gemeinsam mit Komplizen einen Goldtransporter. Das Gericht verurteilte ihn zu acht Jahren Haft. Während seiner Inhaftierung rappte er seine Songtexte in ein Diktiergerät und konnte so sein nach seiner Gefangenennummer benanntes Album »Nr. 415« veröffentlichen.
Herr Akin, was hat Sie dazu gebracht, die Geschichte von Giwar Hajabi zu verfilmen?
Als ich sein Buch gelesen habe, war ich sehr überwältigt von dieser Kraft, die aus seinem Leben kommt. Der erste Satz lautet: »Die ersten Erinnerungen meines Lebens sind Erinnerungen an den Knast.« Darüber muss man erst mal nachdenken. Meine ersten Erinnerungen sind sehr behütet, aber seine sind aus einem Gefängnis mit seinen Eltern. Wenn man das alles liest: die Flucht, die Vertreibung, der Iran-Irak-Krieg, das Flüchtlingsheim in Paris und dann die Ankunft in Bonn, wo seine Eltern sich trennen und wo die Mutter putzt, damit genug Geld da ist. Und dann schämt er sich für die Mutter … Also das ist ein sehr faszinierendes Leben. Das Leben schreibt die verrücktesten Geschichten. Es war sein Leben, was mich motiviert hat. Aber auch, wie sehr solche Menschen Deutschland prägen; sie kommen hierher und verändern das Land und werden selbst am Ende zu Mythologie, zur deutschen Mythologie.
Ihre Geschichte beginnt schon vor Giwars Geburt. Wir sehen seine kurdischen Eltern in Teheran kurz nach der Islamischen Revolution im Jahr 1979. Sein Vater ist ein berühmter Komponist und gibt gerade ein Konzert, seine Mutter spielt im Orchester. Und dann stürmen die Islamisten das Konzert. Die Eltern fliehen aus dem Iran. Man kann diese Szenen nicht sehen, ohne an die aktuellen Nachrichten über den Iran zu denken. Bekommt Ihr Film nun eine andere Aktualität?
Als ich das Drehbuch geschrieben und entwickelt habe, hatte ich die Flüchtlinge 2015 aus Syrien und Afghanistan im Kopf, wie ein großer Teil der deutschen Gesellschaft Ablehnung gegenüber ihnen zeigte. Meine Eltern sind nicht geflüchtet, sie waren Gastarbeiter. Und dennoch sind wir Einwanderer, und Giwar Hajabi ist auch Einwanderer, aber er kommt aus einer ganz anderen Generation. Er kommt aus ähnlichen Motiven heraus wie die syrischen Flüchtlinge. Das war für mich das Aktuelle. Als wir den Film dann geschnitten haben, war er wieder ganz aktuell wegen des Ukraine-Kriegs. Wobei ich dachte: Das ist doch eine sehr rassistische Gesellschaft, denn sie haben so viel Theater gemacht, als die Syrer kamen. Und jetzt kommen andere Flüchtlinge aus einem nichtislamischen Hintergrund, haben keine schwarzen Haare – und es gibt kein Problem. Jetzt kommt der Film heraus, und er ist wieder aktuell wegen der Kurdin Mahsa (Jina) Amini und der Proteste im Iran. Diese Themen sind immer aktuell.
Was war die große Herausforderung, diesen Film zu realisieren? Giwar Hajabi war ja bei den Dreharbeiten dabei. Gab es Szenen aus seiner Biografie, die er lieber nicht auf der Leinwand sehen wollte?
Er hat mir komplett freie Hand gelassen. Er hat sich überhaupt nicht eingemischt; es gab gar keine Zensur. Ich brauchte ihn am Set eher für die Details. Diese Leute tragen zum Beispiel immer teure Uhren oder Schuhe. Für sie sind Schuhe wie Autos. Marken sind für ihn immer wichtig. Also er war nicht die Schwierigkeit. Es gab zu wenig Zeit und zu wenig Geld. Das war das Schwierige. Ich musste den Film in der Corona-Zeit fertig machen. Es ist ein sehr großer, sehr epischer Film geworden. Auch sehr teuer. Und ich bin ganz stolz darauf, weil wir es in der wenigen Zeit geschafft haben. Aber der Film wäre noch besser geworden, hätten wir noch mehr Zeit und noch mehr Geld gehabt.
Brutale Männerwelten, krasse Typen, Straßenmilieus: Manche assoziieren Ihre Filme mit solchen Themen. Auch in »Rheingold« sieht man vor allem Männerszenen. Außer der Mutter, die in einigen Sequenzen schon eine wichtige Rolle spielt, gibt es noch eine Perserin, für die Giwar anscheinend Gefühle hatte. Und diese Frau spricht vielleicht so ungefähr sechs Sätze im Film. Spielten wirklich so wenige Frauen in solch einer Biografie eine Rolle?
Er beschreibt eine Männerwelt. Ich habe ja auch Filme über Frauen gemacht, also »Aus dem Nichts«, »Gegen die Wand« oder »Auf der anderen Seite«. Und mein nächstes Projekt ist über Marlene Dietrich, wenn wir das finanziert kriegen. Das wird noch mal eine ganz andere Herausforderung. Aber »Rheingold« spielt in einer patriarchalischen Welt. Diese Welt in Amsterdam beispielsweise, die gibt es. Das ist eine reale Welt. Ich habe das recherchiert.
Diese Mafia in Amsterdam, die auch das Türsteher-Business unter Kontrolle hat und will, dass etwa keine türkischen und kurdischen Frauen in die Klubs eingelassen werden.
Der Mafia-Chef im Film sagt auch den Grund, denn es gibt dann Schießereien mit dieser und jener Familie und Blutrache und Ehrenmorde. Das ist deren Lebenswirklichkeit. Und das ist eine faszinierende Lebenswirklichkeit, auch eine Horror-Lebenswirklichkeit, aber eine Wirklichkeit.
Aber wenn es nun so ein Quotending gibt, das sagt: »Die Geschichten müssen jetzt alle Geschichten von Frauen sein«, oder einen Trend: »Man darf keinen Film mehr über patriarchale Männer machen«, dann empfinde ich das als eine gewisse Form der Zensur und denke: Wieso darf man das nicht machen? Ich möchte es trotzdem machen. Ein anderes Beispiel: Ich komme aus der Türkei. Ich darf keinen Film über den Völkermord an den Armeniern machen. Alle sagen, man darf das nicht; und ich bin neugierig und ich bin auch Punk, also mache ich das erst recht. Oder man darf keinen Film über Kurden drehen. Ich werde vielleicht Ärger kriegen für diesen Film (»Rheingold«). »Er hat die Peschmerga gezeigt, er ist PKK!«, werden die Leute vielleicht sagen!
Doch es gibt einen Unterschied: Die Motive von türkischen Faschisten sind reaktionäre Motive. Die Motive der Frauenbewegung weltweit und im Kino sind progressive. Und ich unterstütze das. Wenn ich mich jetzt orientieren will, kann ich auf 100 Jahre Filmkunst zurückblicken, und es sind überwiegend Männer: Scorsese, John Huston, Yılmaz Güney, Visconti, Renoir. Männer, Männer, Männer. Ich wünsche mir in 100 Jahren, dass Filmemacherinnen, Regisseurinnen auf 100 Jahre Filmemacherinnen zurückblicken können. Aber sobald etwas verboten wird, sobald etwas nicht trendy ist, sobald es eine moralische Zensur gibt – egal, ob progressiv oder reaktionär, der Mechanismus ist gleich –, denke ich: Ich möchte mich dem widersetzen. Deswegen hat mich der Film auch interessiert. Verstehen Sie, was ich meine? Was denken Sie darüber? Ich möchte Ihre Meinung dazu hören.
Ja, ich verstehe. Auch ich würde mich der Zensur widersetzen. Aber ich glaube nicht, dass jemand sagt, dass solche Männergeschichten nicht erzählt werden dürfen. Ich habe übrigens auch kein Problem mit den Quoten. Denn jahrzehntelang systematische Unterdrückung kann nicht auf einmal von selbst aus der Welt geschafft werden, da braucht es auch systematische Unterstützung, denke ich.
Als ich in der Branche angefangen habe zu arbeiten, war ich zunächst Schauspieler. Meine »Kanak«-Kollegen und ich mussten im Film und Fernsehen immer denselben Typen spielen: den Türken von nebenan. Schnell machte der Begriff »Quotentürke« die Runde, und ich hatte das Gefühl, aus Alibigründen besetzt zu werden. Ich wollte aber besetzt werden, weil ich gut bin, nicht wegen einer Quote. Ich will nicht das Gewissen einer Gesellschaft befriedigen, sondern mich künstlerisch ausdrücken können. Daher meine Abneigung gegen Quoten, aber ich sehe ein, dass das nicht dasselbe ist.
Giwar litt in seiner Kindheit in Deutschland nicht nur unter Armut, sondern auch unter Ausgrenzung und Rassismus. In Interviews sagte er, dass die Deutschen ihn in der Schule »Asi« nannten oder »Asi-Kanake« – und irgendwann wurde er zu diesem »Asi« oder hat ihnen den »Asi-Kanaken« gegeben. Manchmal sind Nichtdeutsche in so einem polarisierten Wechselspiel gefangen: Entweder den Deutschen den »Asi« geben – wenn man mit den Worten von Giwar sprechen möchte – oder den Deutschen das Gegenbild beweisen. Hatten Sie auch dieses Gefühl, in solch einer Situation gefangen zu sein?
Ich war in einer Gang als Jugendlicher. In meiner Nachbarschaft gab es eine Jugendgang, und sie waren kriminell. Ich war mit ihnen zusammen, war Teil der Gang. Und wenn ich heute reflektiere, weiß ich, dass ich in der Gang war, weil ich Rassismus erlebt habe oder mich vor Rassismus gefürchtet habe. Heute sagen wir zu uns selbst »Kanaks«. In den 80er Jahren stand als Graffiti an den Wänden: »Kanaken raus!« Das ist ein Wort, das uns Angst gemacht hat. So haben Nazis uns beschimpft.
Wenn ich heute mich selbst als »Kanak« oute, dann habe ich die Hoheit über meine Angst. Das ist die Auseinandersetzung mit der Angst. Ich hatte als Kind Angst vor Rassismus, habe mich ausgeschlossen gefühlt. Es gab Räume, wo es klar war: Wir sind Ausländer. Und in den 90ern, als die beiden deutschen Staaten zusammenkamen und es Anschläge in Mölln, Solingen und Rostock gab, da bin ich in die Gangs.
Die Gang war für mich auch ein Schutz. Ich kann also nachvollziehen, wenn Giwar sagt: Ich habe den Deutschen den »Asi« gegeben. Ich bin nicht in die Gang gegangen, um den Deutschen den »Asi« zu geben, aber um den Deutschen zu sagen: Ey, leg dich nicht mit mir an, ich habe hinter mir viele Leute, lass mich in Ruhe. Das kommt bei Rassismus heraus, weil ich das erlebt habe.
Was ist das Schrecklichste oder das Unangenehmste, was Sie erlebt haben?
Rassismus, den man nicht sieht – das ist für mich schlimmer als Nazis auf der Straße. Es ist einfach zu sagen, denn ich habe keinen Verlust durch Rassismus erlebt, ich habe niemanden verloren wie in Hanau oder durch den NSU. Aber trotzdem sage ich: Ein großer Teil in der Gesellschaft ist rassistisch im Alltag. Wenn etwa Kubicki von türkischen Kanalratten spricht. Den versteckten Rassismus finde ich viel gefährlicher. Wann wird mein Film angegriffen, weil er als Kunstwerk nicht gefallen wird? Wann wird mein Film angegriffen, weil ich das gemacht habe? Es gibt Filmkritiker, die rassistisch sind. Das so zu erkennen, da sensibel zu sein, musste ich lernen. Die Arbeit mit diesen ganzen Menschen am Film hat mir selbst noch mal gezeigt: Hey, ich bin von denen. Ich bin »Kanak«, ich bin nicht Mehrheitsgesellschaft, bin Minderheit in diesem Land. Deswegen bin ich dem Film sehr dankbar.
Wann wussten Sie, dass Sie Regisseur werden möchten?
Oh, das wusste ich früh. Ich bin von Film fasziniert, seit ich sieben bin oder acht – so in den Jahren bin ich mit Filmen in Kontakt gekommen. Und ich glaube, mit 14 oder 15 war es klar, ich werde irgendwann davon leben.
Haben Sie einen Lieblingsregisseur oder vielleicht eine Lieblingsregisseurin?
Es ist nicht eine Regisseurin oder ein Regisseur, es sind eigentlich immer Strömungen, die mich beeinflusst haben. Die erste Strömung, mit der ich in Kontakt gekommen bin, war asiatisches Kino. Hongkong-Kino und Kung-Fu-Filme. Ich gucke so etwas heute immer noch. Es ist sehr visuell. Die zweite Welle, fast gleichzeitig, waren türkische Filme, die immer bei uns zu Hause liefen oder bei Verwandten und Bekannten. Auch die Strömung New-Hollywood, das amerikanische Kino aus den 60er und 70er Jahren, ist für mich sehr prägend gewesen. Das ist sehr beeinflusst vom europäischen Kino. Es ist die Verschmelzung davon.
Und was macht Ihnen Spaß außer Film? Was tun Sie, wenn Sie gerade keinen Film drehen?
Ich arbeite immer an irgendeinem Film. Immer. Aber ich höre auch gerne Musik.
Was für Musik hören Sie dann gern? Die Musik von Xatar etwa?
(Lacht) Alles Mögliche. Es gibt keine Richtung, sondern eher Phasen. In einer Phase höre ich sehr viel Jazz, in einer anderen viel türkische Musik. Mal höre ich sehr viel Hip-Hop, mal viel Heavy Metal.
Das ist der größte Luxus: ein Buch zu lesen, eine Platte zu hören. Oder einen Film zu schauen. Ich habe natürlich auch eine Verpflichtung: Ich habe zwei Kinder. Mein Leben, das sind meine Termine eigentlich. Ich muss immer irgendein Kind abholen oder irgendwohin bringen, kochen oder aufräumen. Und ich genieße das auch, wenn ich mit meinen Kindern Zeit verbringe.
Sie sind auch politisch aktiv …
Bin ich politisch aktiv?
Also vor allem, wenn Künstler*innen oder Aktivist*innen verhaftet werden, da äußern Sie sich dagegen oder fordern deren Freilassung. Jetzt haben Sie auf Instagram ein Bild von Mahsa (Jina) Amini gepostet und haben sich mit den Protesten im Iran solidarisiert. Können die Prominenten in so einer Situation etwas bewegen?
Ich glaube, jeder kann etwas bewegen. Ich als Prominenter habe eine größere Reichweite. In Russland hat etwa die Popsängerin Alla Pugatschowa, die vom Volk so geliebt wird und die sich gegen Putin positioniert hat, viel bewegt in den Köpfen der Leute, vor allem bei Frauen, denke ich. Oder die Sängerinnen Sezen Aksu oder Gülşen haben in der Türkei viel bewegt.
Ich will kein Vorbild sein, und ich glaube, ich bin auch kein Vorbild, aber ich erreiche viele Leute. Das ist das Ding. Ich nutze meine Popularität und positioniere mich. Aber jeder kann sich positionieren. Ich möchte auch sagen, dass ich nicht politisch aktiv bin im Sinne von: Ich gehöre überhaupt keinem Ismus an, gehöre zu keiner politischen Gruppe, unterstütze keine Partei, und ich glaube an kein Ideal. Ich sehe manchmal, dass etwas ungerecht ist, und dann sage ich: Hey, das ist ungerecht. Das ist alles, was ich mache.
»Rheingold«: Deutschland 2022. Buch und Regie: Fatih Akin, nach der Autobiografie von Xatar. Mit: Emilio Sakraya, Mona Pirzad, Kardo Razzazi, Ilyes Raoul, Sogol Faghani. 140 Minuten. Kinostart: 27. Oktober.
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