• Kultur
  • Theaterstück »Leuchte, mein Stern, leuchte«

Botschafter des anderen Lebens

Martin Nimz’ Inszenierung von »Leuchte, mein Stern, leuchte« am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.
Kafkaesker Nichttraum der Trostlosigkeit
Kafkaesker Nichttraum der Trostlosigkeit

Eine Trümmerlandschaft mit zerbrochenen Schaufensterpuppen und – im tiefen Bühnenhintergrund – einer Art halbiertem Triumphbogen mit trotzig flatternder roter Fahne: Sowjetrussland im Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution, umkämpft von den Roten (den Bolschewiki), den Weißen (den zaristischen Truppen) und den Grünen (vagabundierenden Banditen) – von den Invasionstruppen aus der ganzen Welt, die den neuen Sowjetstaat schnell wieder vernichten wollten, ganz zu schweigen. Das ist die Urszene des russischen Traumas von der Umzingelung.

Joachim Hamster Damm hat die Bühne zu Martin Nimz’ Inszenierung von »Leuchte, mein Stern, leuchte« (nach Alexander Mittas legendärem sowjetischen Film von 1970) als kafkaesken Nichttraum der Trostlosigkeit aufgefasst. Ein Schlachtfeld im drohenden Halbdunkel. Wer sich der Zerstörungsmacht entgegenstellt, müsste eine Art Simplicissimus sein, ein Narr in höherem Auftrag.

Und so tritt er auf: Iskremas, um dessen Utopie vom Theater dieser Abend kreisen wird. Es ist ein Kampfname, wie ihn viele der Revolutionäre wählten, und dieser Name ist Programm: Die-Kunst-der-Revolution-den-Massen-der-Revolution! Oleg Tabakow war bei Mitta auf einem Pferdewagen, seiner Ein-Mann-Bühne, in den kleinen, aber von den Bürgerkriegsparteien heftig umkämpften Ort Kapriwnitzy gefahren. In die Lektüre von Shakespeares »Julius Cäsar« versunken, nimmt er nichts um sich herum wahr. Ein wunderbares Bild: Der passionierte Leser inmitten der äußeren Verwüstung vor sich hinlachend.

Hier in Schwerin betritt Jonas Steglich als Iskremas wie eine fremde Kafka-Figur mit Hut und großem Vertreterkoffer die Bühne. Er ist so etwas wie ein Handlungsreisender in Sachen neues Theater, eine irgendwie zwielichtige Figur. Mittas Hauptdarsteller Oleg Tabakow als Iskremas war dagegen wie ein großes Kind gewesen, das seinem Traum folgte, bis zum vorhersehbaren Ende. Aber Jonas Steglich spielt keine Identifikationsfigur, man geht als Zuschauer unwillkürlich auf Distanz zu ihm.

Am Anfang glaubt man kaum, dass er den Abend tragen wird – zumal für die Rolle des Iskremas der im vergangenen Jahr plötzlich verstorbene Martin Brauer prädestiniert schien. Dieser hatte eine außerordentliche Fähigkeit zu suggestivem Spiel. Hier aber erscheint der Missionar der neuen Kunst, die eine neue – brüderliche – Form des Zusammenlebens fordert, selbst unter Rechtfertigungsdruck geraten. Sein Idealismus jedenfalls hat Risse bekommen. Ist Iskremas vielleicht auch nur ein Karrierist, einer, der vor allem von seiner Eitelkeit getrieben wird? So sehr wie Steglich anfangs als allzu umtriebiger Iskremas befremdet, so plausibel wird seine mit erheblichem Energieaufwand entwickelte Figur dann im Fortgang.

Die mehrfach verschobene Inszenierung kommt jetzt im richtigen Augenblick heraus. Nach Beginn der russischen Ukraine-Invasion gab es auch Stimmen, die sagten: ein russisches Stück jetzt? Aber es ist eben kein russisches Stück, sondern ein harter Blick auf die frühe Sowjetunion, in der bekanntlich Russland und die Ukraine unter gleichem Vorzeichen vereinigt waren. Wir haben Teil am Widerstreit der Utopie vom neuen Menschen unter den Bedingungen von Krieg und Terror.

Wie entsteht überhaupt Neues und ist dieses Neue (auch das schlecht gemachte) besser als das Alte? Das Neue entspringt immer einer Idee, aber in der Praxis verwandelt sich diese schnell wieder in falsches Bewusstsein, in Ideologie. Darum der Kunstfuror der frühen Sowjetunion mit dem Künstler als unbedingtem Wahrheitssucher.

Dieser von Mitta in seinem Film noch fortgeschriebenen Utopie will Regisseur Martin Nimz offensichtlich nicht länger folgen. Er sieht die Brüche in der Figur. Insofern ist Iskremas seinem Gegenspieler Pascha nicht unähnlich, der mit seinem Kino dem Theater überaus erfolgreich Konkurrenz macht. Er zeigt den immer gleichen kitschigen Stummfilm vom Kind, das im Meer ertrinkt, während seine Eltern durch Amüsement abgelenkt sind.

Ist der von Iskremas verachtete Filmvorführer Pascha – überzeugend: Frank Wiegard als Opportunist, der in wechselnden Zeiten überleben will – denn anders als er? Paschas Kommentare zum Film, eilfertig der wechselnden Macht im Dorfe angepasst, klingen überaus rhetorisch. So wie auch Iskremas klingt. Das wiederum vermag Steglich sehr gut zu zeigen: Hier ist einer, auf den man besser nicht bauen sollte! Einer, der mit Brecht gesprochen, täglich seine Haut zu Markte trägt.

Wirklich anders ist Fedja, der Maler, der kaum ein Wort spricht. Einer, der noch die unreifen Äpfel des zerschossenen Baumes rot anmalt und ihnen so die vorenthaltene Reife gibt. Marko Dyrlichs Fedja hat dieses innere Strahlen, das Iskremas, dem wortreichen Agitator, abgeht. Fedjas Tod ist in diesen Zeiten so vorhersehbar wie absurd.

Eine hat hier ihren großen Auftritt: Wassilissa List als Bauernmädchen Krysia, bei Mitta ein stumpfes Mädchen, bloßes Erziehungsobjekt von Iskremas. Hier aber blüht sie unerwartet auf, empfindungsreich eignet sie sich die Stückfigur der Jeanne d’Arc an, die Iskremas ihr mit allen Unarten des Regietheaters aufzudrängen versucht. Dann aber hält sie – jenseits jeder Regievorgabe – eine empathische Rede über Frieden, Vernunft und Versöhnung, mit ganz eigenen Worten und doch ganz im Geiste Schillers.

Unerwartete Wendungen, die jedoch der Bühnenadaption eines Films immer gut tun. Misstraut den Propheten aller Art? Besser noch, man nähert sich ihnen mit Aufmerksamkeit und auch Sympathie, aber nicht gläubig oder gar unterwürfig. Ein starker, überaus inspirierter Abend.

Nächste Vorstellungen: 5.11.2022, 2.12.2022, 11.1.2023, 9.2.2023

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