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Versteckter Nachteil
Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds berücksichtigen Bedürftige zu wenig
Die Krankenversorgung in Deutschland ist von etlichen Ungerechtigkeiten geprägt: Stadtteile mit einer ärmeren Bevölkerung weisen häufig weniger Arztsitze auf als die reichen und gentrifizierten Kieze. Menschen, die mindestens zehn Jahre unterhalb der offiziellen Armutsschwelle lebten, haben am Ende eine acht bis zehn Jahre geringere Lebenserwartung als die wohlhabenderen. Wissenschaftler des Forschungsinstituts für Medizinmanagement sowie des Lehrstuhls für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen haben jetzt ein Gutachten vorgelegt, das auf einen weiteren Baustein in Sachen Benachteiligung hinweist.
Der kritische Zusammenhang verbirgt sich in den Regeln zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Seit 2009 gibt es für die Verteilung der Beitragsgelder der Versicherten, plus möglicher Zuzahlungen aus dem Steuertopf, den Gesundheitsfonds. Die Krankenkassen erhalten aus dem Fonds die Gelder nach einem bestimmten Verfahren. Das nennt sich morbiditiätsorientierter Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Berücksichtigt werden dort neben Zahl der Versicherten auch deren Krankheiten und Wohnort. Eine Kasse, die besonders viele Herz-Kreislauf-Kranke versichert, die auch noch mehrheitlich auf dem Lande wohnen, kann also erwarten, dass sie dadurch nicht gegenüber anderen Kassen benachteiligt wird, die mehr junge, gesunde Versicherte in Großstädten hat. So weit, so kompliziert.
Das neue Gutachten, das Wissenschaftler um den Volkswirt Jürgen Wasem erstellt haben, zeigt nun, dass bestimmte benachteiligte Gruppen im Morbi-RSA nicht angemessen berücksichtigt sind. Die Zuweisungen gerade für Pflegebedürftige, Arbeitslose, Erwerbsminderungsrentner und zuzahlungsbefreite Versicherte (sogenannte Härtefälle) decken bei weitem nicht die Ausgaben der Kassen für diese Menschen. Am deutlichsten fällt die Unterdeckung für ambulant Pflegebedürftige aus: Für sie erhalten die gesetzlichen Kassen nur etwa 80 Prozent dessen aus dem Gesundheitsfonds zugewiesen, was sie im Schnitt für diese Menschen ausgeben. Auch ein Risikopool am Morbi-RSA, der Ausgaben von mehr als 100 000 Euro je Versichertem zu 80 Prozent ausgleicht, schafft nur wenig Erleichterung; der gedeckte Wert steigt dann auf 82 Prozent.
Andererseits gibt es eine gewisse Überdeckung von knapp neun Prozent bei der Gruppe der stationär Gepflegten. Sie ist zahlenmäßig deutlich kleiner als die Gruppe der zu Hause Betreuten. Für den Unterschied bietet Gesundheitsökonom Wasem die folgende Erklärung an: Bestimmte Leistungen, wie etwa Verbandswechsel, werden in Heimen von der Pflegekasse bezahlt, ambulant aber von der Krankenkasse. Hinzu komme wahrscheinlich, dass aufgrund der pflegerischen Kompetenzen in Einrichtungen Menschen nicht so schnell ins Krankenhaus eingewiesen würden wie bei gleichen Gesundheitsproblemen jene, die zu Hause versorgt würden. Unter dem Strich könnte das die Differenz erklären.
Geringer fällt die Unterdeckung bei Härtefällen, Erwerbsminderungsrentnern und ALG-II-Empfängern aus. Die Deckung liegt aber höchstens bei etwa 95 Prozent. Dass für die Gesundheitsversorgung der letztgenannten Gruppe bei den Kassen zu wenig Geld ankommt, war schon vorher aufgefallen, denn für diese zahlt der Bund eine Pauschale. Die ist so knapp festgelegt, dass den gesetzlichen Krankenkassen insgesamt allein dadurch im Jahr zehn Milliarden Euro fehlen. Im Koalitionsvertrag ist eine Anhebung dieser Beiträge zugesagt, bis jetzt ist jedoch noch nichts entsprechendes passiert.
Der AOK-Bundesverband, der das Gutachten beauftragte, möchte die »systematische Unterdeckung« beseitigen. Darin besteht vermutlich Einigkeit mit den anderen großen gesetzlichen Kassen. Jens Martin Hoyer, stellvertretender Vorstand des AOK-Bundesverbands, erklärt, dass auch dort die vier genannten Gruppen in relevanter Zahl versichert seien. Der Risikostrukturausgleich sei weiter zu entwickeln, damit Fehlanreize zu Lasten Schutzbedürftiger verschwänden. Vorteile für Kassen, die besonders jüngere, gesunde Menschen umwerben, sollte es nicht geben. Die nötigen Veränderungen brauchen Zeit: Der zuständige wissenschaftliche Beirat beim Bundesamt für soziale Sicherung (BAS) plant erst für 2024 eine Prüfung des Morbi-RSA. Der konkrete gesetzliche Auftrag dafür müsste noch in diesem Jahr erteilt werden, unter Berücksichtigung der Daten zu den genannten Gruppen. Das ist jedenfalls die Forderung der Wissenschaftler wie des AOK-Bundesverbandes.
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