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Anatomie der Macht

Geleakte Dokumente geben einen tiefen Einblick in die Aktivitäten von Mexikos Militär und Kriminellen

  • Moritz Osswald, Mexiko-Stadt
  • Lesedauer: 4 Min.
Mexikos Präsident mit Verteidigungs- (l.) und Marineminister (r.) bei einer Militärparade
Mexikos Präsident mit Verteidigungs- (l.) und Marineminister (r.) bei einer Militärparade

Ein historisches Datenleck offenbart tiefe Einblicke in das Innenleben des mexikanischen Militärs. Als »Radiografie der Macht« bezeichnet es der Journalist Carlos Loret de Mola gar. Eine aktivistische Hackergruppe erbeutete sechs Terabyte an Daten, die den Zeitraum 2016 bis September 2022 betreffen. Darunter befinden sich Millionen von E-Mails, vertrauliche Dokumente, Berichte über die Beschattung von Personen, detaillierte Kenntnisse über Akteur*innen der organisierten Kriminalität. Pikant dabei: Nicht nur Mails, die die Streitkräfte empfangen haben, befinden sich darunter; auch an ausländische Regierungen und Botschaften anderer Länder adressierte Mails tauchen auf.

Das bisher größte Datenleck in der Geschichte Mexikos offenbart gravierende Probleme in der Cybersicherheit des mexikanischen Verteidigungsministeriums (Sedena) und zeichnet ein unschönes Bild darüber, wie einfach die nationale Sicherheit heutzutage durch Hackerangriffe bedroht werden kann. Betroffen ist nicht nur Mexiko, auch die Streitkräfte Chiles, Perus, El Salvadors und Kolumbiens wurden gehackt. Der Umfang der geleakten Dokumente ist so enorm, dass sich die Tragweite wohl erst in den nächsten Wochen und Monaten richtig zeigen wird. Aufgrund der Brisanz der Dokumente ist das Material nur bestimmten Redaktionen und Journalist*innen zugänglich. Die Informationen könnten einen »Kollaps der Institutionen« verursachen, meinte Cybersicherheits-Experte Alberto Escorcia kürzlich zur BBC.

Hinter dem groß angelegten Angriff steckt eine Hackergruppe, die sich selbst »Guacamaya« nennt. Die Guacamayas, benannt nach einem bunten Vogel Zentralamerikas, machten sich eine Sicherheitslücke im Mail-Programm zunutze. Die Nachlässigkeit der Streitkräfte in der IT-Sicherheit zahlte sich für die Hacker aus, denn einfacher ging es kaum: Ganze elf Monate lang ließen die Militärs ein Sicherheits-Update der Software »Exchange« liegen. Hersteller Microsoft mahnte damals eindringlich, den Patch zu installieren – was scheinbar niemanden interessierte.

Eine Bombe ließ die Presse in Mexiko bereits platzen. Schließlich ist sie selbst betroffen – denn ein alter Skandal der Vorgängerregierung holt die jetzige wieder ein. Dokumente der Guacamaya-Leaks belegen eindeutig, dass die jetzige Regierung Mexikos Medienschaffende und Menschenrechtler*innen ausspäht. Und zwar trotz der expliziten und mehrfachen Betonung des Präsidenten, dass das kalter Kaffee der alten Regierung sei. Bisher bekannt geworden ist die Überwachung der Telefone von mindestens zwei Journalist*innen und einem Menschenrechtsverteidiger. Zudem konnte nachgewiesen werden, dass das Handy des Oppositionspolitikers Agustín Basave Alanís infiziert wurde. Die Guacamaya-Leaks belegen, dass das Verteidigungsministerium – entgegen der Behauptung des Präsidenten – Verträge mit der Mittlerfirma Antsua unterhält. Die vertritt die israelische NSO Group, welche wiederum die Spyware Pegasus vertreibt.

Es ist nicht der erste Coup des Hackerkollektivs: Bereits im August dieses Jahres erbeuteten die Guacamayas laut der Plattform DdoSecrets.com über ein Terabyte an Daten von Bergbau- und Ölfirmen in Brasilien, Kolumbien, Chile, Ecuador, Guatemala sowie Venezuela. Der erste betroffene Staat war Chile. Am 19. September ploppte die Meldung auf: Rund 400 000 E-Mails der Stabschefs der chilenischen Streitkräfte gehackt. Chiles Verteidigungsministerin Maya Fernández Allende beendete umgehend ihren Aufenthalt in den USA und formte einen Krisenstab. Eine der ersten Konsequenzen war der Rücktritt des obersten Generalstabschefs Guillermo Paiva, drei Tage nach Bekanntwerden der Sicherheitslücke.

Derweil herrscht in Mexiko politisches Grillenzirpen. Der Politologe und freie Journalist Témoris Grecko betont, dass der Chef des Verteidigungsministeriums (Sedena), Luis Cresencio Sandoval, längst hätte zurücktreten müssen. Stattdessen passiert das, was in Mexiko meist passiert: nichts. Alleine die bisherigen Enthüllungen lassen aufschrecken. Geleakte Unterlagen zeigen, dass Mitglieder des Militärs in organisierter Manier Waffen an Kriminelle verkauften.

So geschehen etwa im Mai 2019 in Mexiko-Stadt. Ein Soldat stand in Kontakt mit einer kriminellen Bande, es ging um den Verkauf von Waffen, darunter Granaten für 26 000 Pesos (rund 1300 Euro) das Stück. Acht davon gingen laut Sedena-Berichten in die Hände von Verbrechern über. Zudem sollen Informationen über geplante Einsätze der Streitkräfte an eine Zelle des organisierten Verbrechens mit Sitz in Mexiko-Staat verkauft worden sein. Präsident Andrés Manuel López Obrador versucht derweil die Tragweite zu verharmlosen. Das Durchsickern der Informationen sei »keine Nachricht«, unter den Dokumenten sei nichts Neues zu finden.

Bewegungsprofile relevanter Drogenbosse, Wohnorte, abgehörte Telefonate: All das findet sich ebenfalls unter den vielen als geheim eingestuften Berichten des Militärs. Die Guacamaya-Leaks zeichnen ein Bild des Innenlebens eines politischen Systems, in dem das Militär mehr und mehr Macht bekommt, aber damit offenbar wenig anzufangen weiß – zumindest gegen das organisierte Verbrechen. Davor warnten die Vereinten Nationen Mexiko wieder und wieder. Ohne Erfolg.

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