In der politischen Sackgasse

Eine wachsende Polarisierung innerhalb der israelischen Gesellschaft lassen eine Lösung des Nahost-Konflikts als ausweglos erscheinen

Das Passieren des Kalandia-Checkpoints zwischen Ost-Jerusalem und dem Westjordanland gerät für einen gebürtigen Ostberliner zum bedrückenden Déjà-vu. Regelmäßig gibt es hier gewaltsame Zusammenstöße.
Das Passieren des Kalandia-Checkpoints zwischen Ost-Jerusalem und dem Westjordanland gerät für einen gebürtigen Ostberliner zum bedrückenden Déjà-vu. Regelmäßig gibt es hier gewaltsame Zusammenstöße.

Zu Israel hat jeder eine Meinung. Selten resultiert diese jedoch aus eigener Anschauung, sondern ist geprägt von der Berichterstattung in den Medien, die vorwiegend den Konflikt mit den Palästinensern thematisieren. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung haben 46 Prozent der Deutschen eine »gute«, 34 Prozent hingegen eine »schlechte« Meinung über Israel, was auch immer »gut« und »schlecht« in diesem Zusammenhang bedeuten mögen. Sich ein umfassendes und differenziertes Bild von dem Land zu machen, mit dem die Deutschen so schicksalhaft verbunden sind, ist aus der Ferne nicht einfach. Eine Möglichkeit dafür sind die Israel-Studienreisen der Bundeszentrale für Politische Bildung, die seit fast 60 Jahren regelmäßig stattfinden. Unser Autor hat die Gelegenheit genutzt, das Land im Vorfeld der kommenden Parlamentswahlen kennenzulernen. Die folgende Recherche entstand im Rahmen dieser Reise im September 2022.

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Die Beschäftigung mit Israel führt zwangsläufig zu einiger Verwirrung. Auch nach einer zweiwöchigen Bildungsreise mit einem profunden Einblick in Land und Leute hält die Verwirrung an, freilich auf höherem Niveau. Wie soll man als Außenstehender dieses Knäuel aus Widersprüchen, Lebenslügen und Dilemmas entwirren, in die sich das Land seit 1995 zunehmend hineinmanövriert hat? In jenem Jahr wurde der damalige Premierminister Yitzhak Rabin von einem rechten religiösen Fanatiker erschossen, nachdem Rabin – eigentlich ein alter Militär – sich entschieden hatte, mit den Oslo-Verträgen dem Frieden eine Chance zu geben. Für den historischen Händedruck zwischen Rabin und Jasser Arafat und den darauf folgenden Friedensprozess zwischen Palästinensern und Israelis bekamen beide den Friedensnobelpreis. Damals schien Frieden in greifbarer Nähe, heute sitzen eben diese rechten religiösen Fanatiker mit in der Regierung und sind die Königsmacher – ohne sie wird niemand Ministerpräsident. Die Ermordung Rabins gilt als Wendepunkt, von dem ab es stetig bergab ging – oder bergauf, je nach Sichtweise. Von nicht wenigen werden die Ultraorthodoxen gegenwärtig als die größte Bedrohung für die israelische Demokratie angesehen, gleich gefolgt von den national-religiösen Siedlern.

Die vielen Widersprüche im Einzelnen aufzudröseln und sich ihnen zu stellen, ist eine fast unlösbare Aufgabe, auch für die Israelis selbst, weshalb es die verbreitete Tendenz gibt, sich im Status quo einzurichten. Das scheint nachvollziehbar, denn der Alltag in einem der teuersten Länder der Welt und unter permanenter latenter Bedrohung von außen ist schwierig genug zu bewältigen. Nur: Die Widersprüche spitzen sich unaufhaltsam zu und drängen nach einer Lösung oder zumindest erst einmal zu der Erkenntnis, dass sich das Land immer mehr in eine Sackgasse bewegt. Dass in wenigen Tagen die fünfte Parlamentswahl innerhalb von zwei Jahren ansteht, ist der sichtbarste Ausdruck der ungelösten Frage, welchen Weg das Land einschlagen möchte. Die Israelis, scheint es, starren wie das Kaninchen auf die Schlange auf diese Wahlen; alles scheint auf die Frage zuzulaufen, ob es Benjamin Netanjahu noch einmal schafft. Für das (links-)liberale, säkulare Lager ist dies das Schreckensszenario, weil es wohl das endgültige Ende jeglicher noch rudimentär vorhandener Bemühungen um eine Verhandlungslösung mit den Palästinensern zur Folge hätte.

Aber auch unabhängig vom künftigen Umgang mit dem Problem der Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens steht Israel vor Herausforderungen, die jede einzelne für sich ein quasi unlösbares Dilemma darstellen. Eine der Schlüsselfragen ist die nach dem Selbstverständnis des Staates Israel. In dem 2018 unter der rechten Regierung Netanjahus verabschiedeten Nationalstaatsgesetz wird Israel als »Heimstätte des jüdischen Volkes« festgeschrieben und der jüdische Charakter des Staates betont. Abgesehen von der (ungeklärten) Frage, ob der »jüdische Charakter« gleichzusetzen ist mit einer religiösen Ausrichtung des Staatswesens, stellt sich die Frage, welchen Platz die Araber in einem solchen Staatswesen einnehmen. Zwanzig Prozent der Bevölkerung im Kerngebiet sind Palästinenser mit israelischem Pass. Deren Status als Bürger zweiter Klasse wird durch das neue Gesetz eher zementiert, als dass es ein Bemühen um Integration gäbe. So schreibt das Gesetz Hebräisch als einzige Amtssprache fest. Anders als zuvor gehört Arabisch nicht mehr dazu, sondern erhält einen nicht näher definierten »besonderen Status«. Die Diskriminierung der arabischen Bevölkerung innerhalb der israelischen Gesellschaft ist vielfältig und augenscheinlich. Man braucht nur in eine der wenigen »gemischten« Städte zu fahren, in denen Araber und Juden gemeinsam leben – in aller Regel streng separiert. Zum Beispiel in Lod, einer 75 000 Einwohner zählenden Stadt östlich von Tel Aviv. Bis 1948 war Lod eine arabische Stadt, deren Bewohner nach dem ersten Unabhängigkeitskrieg größtenteils vertrieben wurden. Heute beträgt das Verhältnis ca. 80 Prozent Juden zu 20 Prozent Palästinensern. Berührungspunkte gibt es im Alltag kaum. Die Benachteiligung ist vielfach und strukturell, was sich in der Repräsentanz von Arabern in der Stadtverwaltung oder der Verteilung der städtischen Budgets niederschlägt. Schon am Zustand der Straßen oder am Grad der Verwahrlosung des öffentlichen Raums erkennt der Auswärtige mühelos, ob er sich im jüdischen oder arabischen Teil der Stadt befindet. Freilich hat die mangelnde Repräsentanz auch damit zu tun, dass die Palästinenser kaum wählen gehen. In ihren Augen wäre das eine Anerkennung der in den letzten 70 Jahren geschaffenen Fakten, denen sie sich immer noch verweigern. So bedingt eins das andere; der Staat überlässt die arabischen Kommunen weitgehend sich selbst, die Arbeitslosigkeit ist hoch, das Bildungssystem streng segregiert. Es gibt kaum Bankfilialen und damit Zugang zu Finanzdienstleistungen, was die Araber zwingt, sich Geld bei zwielichtigen Kreditgebern zu überhöhten Zinsen zu leihen, was wiederum die Kriminalität befördert.

Auch Polizeistationen gibt es im arabischen Teil Lods so gut wie keine. Gerne verweisen die jüdischen Israelis, angesprochen auf die Diskriminierung ihrer arabischen Mitbürger, auf die innerarabische Gewalt; zuerst einmal sollten die doch bei sich selbst aufräumen, heißt es dann. Tatsächlich sind Verbrechen und Gewalt sowie überkommene patriarchale Strukturen das größte Problem innerhalb der arabisch-palästinensischen Communities. Femizide sind an der Tagesordnung, erst im September wurden eine Frau und eine ihrer beiden Töchter auf offener Straße erschossen, womit sich die Zahl der getöteten Frauen in Lod und Umgebung seit Jahresbeginn auf neun summiert hat. Israelis behaupten gern, die hohe Kriminalitätsrate liege den Arabern »im Blut«, sei also eine kulturelle Eigenschaft. Dabei dürfte sie zweifellos (auch) durch die Lebensbedingungen und die strukturelle Benachteiligung im Zusammenleben mit den jüdischen Nachbarn bedingt sein. Fakt ist, dass die Verbrechensrate und die Zahl der Femizide im Westjordanland ungleich geringer sind. Dazu passt, dass von den 77 städtischen Sozialarbeitern in Lod lediglich drei arabisch sind. Traurige Berühmtheit erlangte Lod im vergangenen Jahr, als es dort im Zuge des Gaza-Konflikts, der im Mai wieder einmal aufgeflammt war, zu den größten inner-israelischen Unruhen seit 1948 kam und israelische Araber drei Synagogen, zahlreiche Geschäfte und Autos in Brand setzten.

Es soll freilich nicht verschwiegen werden, dass es seit einigen Jahren auch eine Gegenbewegung gibt, die zu einer größeren Integration von arabischen Israelis in den Arbeitsmarkt, zu verbesserten Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten geführt hat. Vor allem aus dem Gesundheitswesen sind Palästinenser heute nicht mehr wegzudenken; überproportional viele Apotheker, Krankenschwestern und Ärzte sind Araber. Interessanterweise wurde diese Entwicklung bereits unter Netanjahu angestoßen und hat schlicht ökonomische Gründe. Hier kommt die zweite große Minderheit Israels ins Spiel, die Ultraorthodoxen. Das orthodoxe Judentum war eine Reaktion auf die Aufklärung im 18. Jahrhundert, als Juden begannen, sich zu assimilieren und sich taufen zu lassen, als Eintrittskarte in die bürgerliche Gesellschaft. Die Orthodoxie entstand als Gegenbewegung aus Angst vor der Auflösung des Judentums. Die damit verbundene Abkehr von der Moderne prägt bis heute deren Verständnis, was die Ablehnung der Staatlichkeit Israels einschließt. Bei der Staatsgründung 1948 war es leicht, die kleine ultraorthodoxe Minderheit zu tolerieren und ihr einen Sonderstatus zuzuerkennen. Bis heute leben die Strenggläubigen abgeschottet und überwiegend auf Staatskosten, sind sie vom Wehrdienst befreit, ist ihre Schulbildung rudimentär. Was einst jedoch als skurrile Minderheit abgetan werden konnte, ist heute bei einer Geburtenrate von 6,6 Kindern pro Frau zu einem bedeutenden demografischen Faktor geworden, der jedoch kaum etwas zum Wirtschaftsleben beiträgt. Hier schließt sich der Kreis zu den arabischen Israelis: Aktuellen Zahlen zufolge tragen die circa 20 Prozent Palästinenser mit israelischem Pass nur 11 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei; bei den etwa 15 Prozent Ultraorthodoxen sind es lediglich 6 Prozent. Die Geburtenrate ist bei beiden Gruppen ähnlich hoch, was dazu führt, dass inzwischen mehr als 50 Prozent der Erstklässler in Israel Ultraorthodoxe oder israelische Palästinenser sind. Ökonomisch ist das schlicht nicht mehr tragbar, und man muss kein großartiger Rechner sein, um zu erkennen, dass die Wirtschaft irgendwann zusammenbricht, wenn die beiden Bevölkerungsgruppen wirtschaftlich nicht stärker integriert werden.

Von den Israelis wird gesagt, sie seien Nachrichten-Junkies. Das ist angesichts der latenten Bedrohung von innen und außen kaum verwunderlich. Die Hauptnachrichtensendung am Abend dauert eine Stunde, und die öffentlichen Debatten, im Fernsehen oder anderswo, spiegeln in ihrer für uns ungewohnten Schärfe die Fragmentierung der Gesellschaft und die verhärteten Gegensätze wider. Freilich ist die größte Zeitung des Landes eine von einem amerikanischen Milliardär finanzierte Gratiszeitung, die dem Likud, also dem rechten Lager, nahesteht, was die Berichterstattung, zum Beispiel über die Situation in den besetzten Gebieten, entsprechend grundiert. Das fängt bereits damit an, dass es »besetzte Gebiete« im Sprachgebrauch der politischen Rechten überhaupt nicht gibt; allenfalls spricht man von »umstrittenen Gebieten«, in der Regel wird das Westjordanland schlicht als Judäa und Samaria bezeichnet. Auf den offiziellen Landkarten und in den Schulbüchern ist die Grüne Linie, also die Waffenstillstandslinie von 1948, die heute die Grenze zwischen Israel und dem Palästinensergebiet bildet, nicht einmal eingezeichnet. Dieser pragmatische Umgang ist offenbar Ausdruck einer kollektiven Verdrängungsleistung; die wenigsten jüdischen Israelis waren je im Westjordanland oder wissen über die Lebensverhältnisse dort Bescheid. Die, die dort waren, etwa als Soldaten, schweigen meist.

Nichtsdestotrotz liegt der ungelöste Konflikt wie ein Schatten über dem Land. Sicht- und erfahrbar wird das in Sderot, einer aufstrebenden 35 000-Einwohner-Stadt unmittelbar an der Grenze zum Gazastreifen. Wenn die Sirenen ertönen, haben die Menschen dort ca. zwölf Sekunden Zeit, den nächsten Bunker aufzusuchen, bevor die Raketen der Hamas einschlagen, sofern sie nicht vom Iron Dome, dem israelischen Raketenabfangsystem, vorher vernichtet werden. Überall im Stadtgebiet und an den Bushaltestellen sind daher kleine Beton-Unterstände aufgestellt, auch jede Wohnung und jedes Haus verfügt über einen Schutzraum. Trauriger Höhepunkt des Stadtrundgangs ist eine lange, bunt bemalte Schlange aus Beton auf einem städtischen Spielplatz, gedacht zum Spielen, Klettern, Verstecken – gleichzeitig dient sie als Unterstand, falls der Alarm ertönt. Für den Ernstfall stehen 60 Psychologen im lokalen Traumazentrum bereit, welches sogar über einen eigenen Streichelzoo für die therapeutische Begleitung traumatisierter Opfer verfügt.

Natürlich fragt sich der Besucher, wie es wohl den Menschen auf der anderen Seite des Zaunes ergeht, die dort eingesperrt sind und nicht über den Luxus psychologischer Betreuung verfügen. Zweifellos ist das Leben im Gazastreifen eine andauernde Traumatisierung für die meisten der zwei Millionen Bewohner des 60 Kilometer langen schmalen Landstreifens. Beim Besichtigen der riesenhaften, über sechs Meter hohen Mauer, die Israel vom Gazastreifen trennt, fallen zahlreiche Rauchsäulen in der Landschaft auf. Diese rühren von der Verbrennung des Mülls her und sind nur ein Indiz für die schleichende Umweltkatastrophe, die sich innerhalb des Gazastreifens abspielt. Wasser aus dem Hahn gibt es nur gelegentlich und ist nicht trinkbar, da das Grundwasser weitgehend vergiftet ist. Sämtliche Abwässer, wöchentlich über eine Million Kubikmeter, werden ungeklärt ins Meer geleitet. Durch die vorherrschende Strömung des Mittelmeers sind von dem verseuchten Wasser auch die israelischen Strände bis hoch nach Haifa betroffen. Aber auch diese Tatsache wird scheinbar verdrängt, die Tel Aviver Strände jedenfalls sind voll von Badenden.

Dass Sderot trotz aller Widrigkeiten des Alltags eine rasch wachsende Stadt mit zahlreichen Neubaugebieten ist, verdankt sie den horrenden Wohnungspreisen in den größeren Städten, die für Familien schlicht nicht mehr bezahlbar sind. Außerdem wird die Ansiedlung mit Steuererleichterungen und vielerlei Vergünstigungen gefördert. Das trifft auch für den Siedlungsbau im besetzten Westjordanland zu. Beim Blick auf eine Karte mit den aktuell bestehenden und geplanten jüdischen Siedlungen wird deutlich, wie unrealistisch eine Zwei-Staaten-Lösung inzwischen geworden ist. Das Westjordanland ist heute ein derartiger Flickenteppich aus A-, B- und C-Gebieten, palästinensischen Dörfern oder Städten, von Israel annektierten Gebieten, jüdischen Siedlungen, militärisch gesicherten Straßen, Armeeposten, Zäunen, Mauern und Checkpoints, dass es überhaupt kein zusammenhängendes Gebiet mehr gibt, aus dem heraus ein Palästinenserstaat gebildet werden könnte. Insbesondere rings um Ost-Jerusalem ist die Dichte an – völkerrechtlich nach wie vor illegalen – Siedlungen derart hoch, dass Israelis, die sich in diesen »Speckgürtel«-Siedlungen niederlassen, komplett ignorieren können, dass sie eigentlich auf besetztem Palästinenserland leben. Nur die Mauer, die sie von den versprengten arabischen Siedlungen trennt und sie vor Steinwürfen oder schlimmeren Attacken schützt, lässt sich nicht übersehen. Innerhalb dieser Mauer leben sie in einer komplett israelischen Infrastruktur. Es ist ein verbreiteter Irrtum zu denken, Siedler wären alle national-religiöse Fanatiker. 80 Prozent der Israelis, die sich auf annektiertem Grund und Boden ansiedeln, in der Regel rund um Jerusalem, sind »Wirtschaftssiedler«, ziehen also allein wegen der finanziellen Vorteile und Steuererleichterungen dorthin und pendeln jeden Tag zur Arbeit nach Israel.

Erst tiefer im Westjordanland kommen dann die Vorposten der radikalen Siedler, militärisch gesicherte Klein- und Kleinstsiedlungen, die trotz ihrer offenkundigen Illegalität vom israelischen Staat nicht nur geduldet, sondern mehr oder weniger offensiv – je nach Regierung – gefördert und mit der notwendigen Infrastruktur versehen werden. Den Alltag der Besatzung zu erleben, wird für den Besucher zum eindrücklichen, mehr noch bedrückenden Erlebnis, und je mehr er an Fakten und Hintergründen erfährt, desto bodenloser und unergründlicher erscheint dieser endlose Konflikt zwischen den ungleichen Nachbarn. Das Passieren eines der Checkpoints, in unserem Fall der Kalandia-Checkpoint zwischen Ost-Jerusalem und der Straße nach Ramallah, gerät für einen gebürtigen Ostberliner zum traurigen Déjà-vu. Umringt von Mauern (doppelt so hoch wie die Berliner Mauer), Wachtürmen, die mit schussbereitem israelischem Militär besetzt sind, dazu die Absurdität und Willkür des israelischen Grenzregimes, eine unterschwellige Aggressivität – so ähnlich muss es an den innerdeutschen Grenzübergängen zugegangen sein. Regelmäßig kommt es hier zu Zwischenfällen, oft mit tödlichem Ausgang. In der Angst der Israelis vor Anschlägen oder Angriffen reichen manchmal ein Missverständnis oder eine falsche Handbewegung bei der Kontrolle am Checkpoint. Mitte September titelte die Tageszeitung »Haaretz«, 81 Palästinenser seien bei Zusammenstößen mit Israelis in diesem Jahr bereits getötet worden, so viele wie seit sieben Jahren nicht mehr. Die meisten Opfer gibt es bei nächtlichen Razzien der israelischen Armee in palästinensischen Ortschaften und eben an den Checkpoints.

Die deprimierenden Details des Besatzungsregimes zu schildern, würde den Rahmen sprengen. Bereits nach einem Tag im Westjordanland ist nachvollziehbar, wie die zunehmende Unversöhnlichkeit der Standpunkte zu erklären ist. Es ist gar nicht so sehr materielles Elend, was den Palästinensern zu schaffen macht – die Unfreiheit und Ausweglosigkeit der Situation sind es, die eine baldige Explosion erwarten lassen. In vielen Wohnungen der 1948 vertriebenen Palästinenser hängen immer noch die alten Schlüssel (oder zumindest Bilder davon) der ehemaligen Häuser, die ihnen einst gehörten, die Hoffnung auf Rückkehr ist – ob realistisch oder nicht – fester Bestandteil des palästinensischen Selbstverständnisses. Das Recht auf Rückkehr ist demzufolge für sie nicht verhandelbar – für Israel andererseits keine Option, über die auch nur ansatzweise disputiert werden könnte. Schon an diesem Punkt scheitert jede denkbare Lösung. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist allerdings Metamorphosen unterworfen und hat sich im Laufe der Zeit verändert; die historischen Zusammenhänge treten allmählich in den Hintergrund, und mehr und mehr wird daraus ein Konflikt mit den umliegenden Regionalmächten – allen voran Iran – und deren Stellvertretern: Hamas, Fatah, Hisbollah, islamischer Dschihad. In gewisser Hinsicht ist Israel Opfer seines eigenen Erfolgs in der Sicherheitspolitik. Die Effizienz der Raketenabwehr und der militärischen Fähigkeiten haben zu einer Vernachlässigung der Suche nach Frieden geführt. Mit der repressiven Politik gegenüber den Palästinensern und der gleichzeitigen Tolerierung der Siedlerbewegung hat sich das Land in eine politische Sackgasse manövriert.

Es wäre nun falsch anzunehmen, angesichts der vielfältigen Problemlagen herrsche in Israel allerorten Depression. Im Gegenteil strahlen das Land und seine Menschen eine Energie und eine Dynamik aus, die ein beeindruckender Gegensatz zum deutschen Trübsinn sind. Richtig ist aber, dass Leute, die sich auskennen, kaum Optimismus vermitteln und die zunehmende Polarisierung innerhalb der israelischen Gesellschaft mit großer Sorge sehen. Die scheinbare Ausweglosigkeit des palästinensisch-israelischen Konfliktes tut ihr Übriges. Sämtliche Verhandlungen sind ins Stocken geraten, was auch damit zu tun hat, dass es keine wirklichen Verhandlungspartner gibt – und zwar auf beiden Seiten. Aus Palästinensersicht will die israelische Regierung ihnen überhaupt keinen eigenen Staat zugestehen, abgesehen davon, dass es angesichts der fünften Wahl in zwei Jahren gar keine verlässlichen Ansprechpartner gibt. Umgekehrt ist die palästinensische Autonomiebehörde unter Mahmud Abbas nicht mehr demokratisch legitimiert, korrupt und autoritär. Unter den Palästinensern hat sie längst jegliche Autorität verloren, die Kriminalität steigt beständig, und mittlerweile gibt es selbst in den A-Gebieten, die eigentlich vollständig unter der Kontrolle der Autonomiebehörde stehen, No-go-Areas, in die sich kein palästinensischer Polizist mehr traut. Hinter vorgehaltener Hand warten alle auf den Tod des 87-jährigen Abbas, der 2018 das Parlament aufgelöst hat und seit 16 Jahren verhindert, dass es Wahlen gibt.

Die Wahlen in Israel interessieren im Westjordanland niemanden mehr – jede Regierung hat bisher noch den Siedlungsbau und damit die Zerstückelung des Landes forciert oder zumindest geduldet. Eine Zwei-Staaten-Lösung hat angesichts der Faktenlage so gut wie keine Befürworter mehr. Eine wachsende Zahl junger Palästinenser spricht sich heute für eine Ein-Staat-Lösung aus, also das Zusammenleben aller Ethnien in einem gemeinsamen Staat. Der höhere Lebensstandard in Israel und die Chance auf demokratische Mitbestimmung sind hierfür ausschlaggebende Argumente. Dafür müsste Israel jedoch gleiche Bürgerrechte für alle garantieren. Danach sieht es in absehbarer Zeit nicht aus. Letzten Umfragen zufolge werden auch im neuen Parlament die rechten und ultrarechten Parteien die absolute Mehrheit erringen. Für sie ist der Status quo die bestmögliche Lösung. Nichts deutet aber darauf hin, dass dieser Status quo noch eine Zukunft hat, die Zeichen stehen eher auf Sturm. Laut einer Umfrage vom März dieses Jahres befürworten 48 Prozent der Palästinenser den bewaffneten Kampf, um die Besatzung zu beenden.

Israels Demokratie wird angesichts der immensen Herausforderungen nur überleben, wenn sich das Land der Frage nach dem Selbstverständnis stellt, die sich am besten als ein Dreieck visualisieren lässt, an dessen drei Ecken jeweils steht: jüdisch, demokratisch und Palästinenserfrage. Nur jeweils zwei dieser Punkte gehen allerdings zusammen: Möchte Israel ein jüdischer und demokratischer Staat sein, muss es die Besatzung und die Zwei-Klassen-Gesellschaft beenden, da diese mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Möchte dieser Staat jüdisch bleiben und die Unterdrückung der Palästinenser fortsetzen, wird das Land auf Dauer keine Demokratie mehr sein. Wenn es sich aber für die Demokratie entscheidet und die Palästinenser gleichberechtigt in ein wie auch immer verfasstes Staatswesen integriert, geraten die Juden zahlenmäßig in die Minderheit, womit Israel kein jüdischer Staat mehr wäre. Sich den Fragen, die dieses Dreieck aufwirft, zu stellen, wird für Israel zur Überlebensfrage.

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