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»Unsere Art zu leben hat sich verändert«
Rita Huni Kuin über Auswirkungen des Klimawandels auf das Leben im brasilianischen Amazonasgebiet
Rita Huni Kuin, wie leben Sie und Ihre Gemeinschaft im Wald?
Rita Huni Kuin ist 28 Jahre alt, lebt in der Nähe der Kleinstadt Jordão im brasilianischen Bundesstaat Acre und gehört zur indigenen Gemeinschaft der Huni Kuin. Als Teil einer Delegation befindet sie sich derzeit auf einer Europa-Reise, um auf die Folgen des Klimawandels in ihrer Region und die Lebensweise ihres Volkes aufmerksam zu machen.
Viele Leute in der Stadt romantisieren den Wald. Unsere Realität ist total anders. Wir haben auch unsere Schwierigkeiten hier, es ist nicht alles Frohsinn und schöne Blumen. Wir haben vor allem Probleme wegen der Abholzungen und weil der Kapitalismus immer stärker zu uns vordringt. Nach der Invasion hat sich alles bei uns verändert, unsere Art zu leben, wie wir uns kleiden, wie wir essen, unsere gesamte Kultur.
Was meinen Sie mit »Invasion«?
Wir Huni Kuin kennen fünf unterschiedliche Zeitalter. Das erste war das Zeitalter der Maloka, der Rundhäuser, in denen alle gemeinsam gelebt haben. Es war eine Zeit der Einheit und ohne Konkurrenzdenken. Die zweite Epoche war die der Kolonisierung und der Invasion, als die ersten Europäer in unsere Gebiete vordrangen. Die dritte nennen wir die Zeit der Versklavung, als wir gezwungen wurden, die Gebräuche der Kolonisatoren anzunehmen, ihre Kleidung zu tragen, ihre Sprache zu sprechen. Die vierte ist die Zeit der Kautschukzapfer. Mit ihnen lebten wir in einer Art Tauschhandel. Unsere Vorfahren waren gezwungen, eine bestimmte Menge von Kautschuk zu sammeln, um im Gegenzug dafür bestimmte Waren zu erhalten. Aktuell leben wir in der fünften Zeit. Es ist die Zeit der Rechte: Anthropologen und andere weiße Leute unterstützten uns dabei, dass unsere Territorien im Kampf gegen die Großgrundbesitzer rechtlich dokumentiert werden.
Gemeinsam mit der Organisation Living Gaia haben Sie auch ein Landkaufprojekt begonnen. Um wie viel Land handelt es sich, und was haben Sie damit vor?
Es sind ungefähr 17 000 Hektar. Das Gebiet grenzt an indigene Territorien und schafft einen Korridor zwischen zwei Schutzgebieten. Uns geht es vor allem darum, den Wald zu erhalten und eine Lebensgrundlage für uns zu haben. Wir werden gemeinschaftliche Projekte organisieren, Ökotourismus zum Beispiel. Wir werden Früchte anbauen, jagen, fischen. Vor allem aber werden wir den Wald respektvoll behandeln und ihn sprechen lassen, was wir mit ihm machen können.
Was könnte er Ihnen sagen wollen?
Er könnte sagen: »Passt gut auf mich auf, und ich werde gut auf euch aufpassen.«
Wie sieht gegenwärtig Ihr Alltag aus?
Insgesamt besteht unsere Gemeinschaft aus 36 Dörfern, die verteilt an zwei Flüssen liegen, dem Jordão und dem Tarauacá. Die Dörfer sind nicht besonders groß, jeweils etwa 100 bis 130 Menschen. Wir leben in der Nähe der Stadt Jordão, mit dem Boot ist es von dort noch eine Tagesreise bis zu manchen anderen Dörfern. Unsere Lebensgrundlage ist der Anbau von Maniok, Mais, Erdnüssen und Bananen, auch Fischfang und Jagd gehören dazu. Aber wegen des Klimawandels gibt es immer weniger Fische und Landtiere. Unsere einzige ökonomische Aktivität ist die Schmuckproduktion. Ansonsten haben wir nur Subsistenzwirtschaft. Wir leben als Gemeinschaft: Das heißt, unsere Pflanzungen gehören dem gesamten Dorf, und was gejagt wird, ebenfalls. Für die Kinder gibt es viel Platz zum Spielen. Wir haben Gemeinschaftsräume und -küchen, wo sich alle versammeln. Früher hatten wir weniger Sorgen mit dem, was wir anpflanzten. Heute wissen wir manchmal nicht, in welcher Jahreszeit wir uns befinden. Wir denken, es ist die richtige Jahreszeit, etwas zu säen. Aber dann werden wir oft überrascht von Überschwemmungen oder Dürre.
Kommt das alles vom Klimawandel?
Ja. Wir erleben mittlerweile etwa jedes Jahr Überschwemmungen – und sie werden immer stärker. Anfang des Jahres gab es eine Überschwemmung, die die komplette Stadt Jordão überflutete und viele unserer Dörfer – dem fielen neben den Anpflanzungen auch viele Tiere zum Opfer.
Seit wann nehmen Sie diese Veränderungen im Amazonasgebiet wahr?
Ich kann es nicht genau sagen. Aber schon seit ein paar Jahren. Die großflächigen Abholzungen finden zwar nicht direkt bei uns statt, sondern in benachbarten Regionen. Aber sie haben starke Auswirkungen auf unser Klima. Wir Indigene haben jetzt große Probleme, weil die Lebensweise der Menschen der Stadt immer stärker zu uns kommt, mit all ihren Effekten.
Wie gehen Sie damit um?
Auch wenn es kein Prozess ist, den man rückgängig machen kann, versuchen wir zumindest, ihn zu verlangsamen und uns mit anderen zu verbünden. Daher ist es für uns wichtig, in den sozialen Medien und im Fernsehen präsent zu sein, um über unsere Probleme zu reden. In der Stadt werden diese häufig ignoriert. Die Leute dort machen es sich einfach, aber sie wissen nicht, welche Auswirkungen ihr Verhalten und ihre Lebensweise auf uns haben und dass wir dabei zu Schaden kommen.
Was wollen Sie tun?
Wir müssen ein Netzwerk schaffen und die Menschen auf uns aufmerksam machen. Was uns nützt, sind Gesetze, die uns schützen. Aber um das zu erreichen, muss man eben auch Druck ausüben. Damit diese nicht nur verabschiedet werden, sondern auch Sorge dafür getragen ist, dass sie eingehalten und respektiert werden.
Sie haben Pädagogik studiert und leben bei Ihrem Volk. Wie verbreitet ist es, dass Frauen der Huni Kuin studieren?
Eher selten, denn die Wege zur Bildung sind sehr schwer. Das beginnt schon bei den Schulen. Es gibt ein Interesse des Staates daran, dass wir nicht viel lernen und schlecht Portugiesisch sprechen. Wir brauchen keine Schule für unsere eigene Kultur, das können wir selbst weitergeben. Aber es ist traurig zu sehen, dass bei uns 14-Jährige kaum ihren Namen auf Portugiesisch schreiben können. Damit wir unsere Rechte erringen und unsere Kultur verteidigen können, müssen wir aber des Portugiesischen mächtig sein. Mit dem Studium ist es noch viel schwieriger. Unter der Regierung Lula konnte man noch kostenlos an den staatlichen Universitäten studieren. Heute gibt es das nicht mehr, mittlerweile muss man dafür viel Geld zahlen. Ich selber hatte das Glück, ein Stipendium für ein Fernstudium zu bekommen. Problematisch war allerdings, dass man einmal im Monat zur Universität musste und die Wege für uns sehr weit und dementsprechend teuer sind. Oftmals werden von Indigenen zudem höhere Preise als gewöhnlich verlangt. Somit wird auch über die Gebühren Druck ausgeübt. Die Botschaft lautet: Wenn du nicht bezahlen kannst, kannst du nicht weiter studieren.
Wie ist der alltägliche Austausch mit der westlichen Gesellschaft?
Es gibt einen Austausch, natürlich. Unsere Boote zum Beispiel werden aus Holz hergestellt, aus Materialien aus dem Wald. Aber sie werden von Nichtindigenen in der Stadt produziert. Früher trug ich ausschließlich traditionell gewebte Kleidung und habe auch die Mode aus der Stadt nicht vermisst. Inzwischen kenne ich aber auch Kleidung aus nichtindigener Produktion und kann zugeben, dass ich sie ebenfalls schön finde. Aber ich werde niemals ausschließlich nichtindigene Kleidung tragen. Vielmehr mische ich da gern und trage beides.
Sie sind vier Frauen, die hier in Europa Ihr Volk vertreten und zu Solidarität aufrufen. Wie typisch ist es, dass Frauen Ihr Volk vertreten?
Das ist überhaupt nicht typisch. Es ist das Ergebnis eines langen und schwierigen Prozesses. Auch wir Huni Kuin leben nämlich in einer sehr patriarchalen Gesellschaft, was man nicht zuletzt daran merkt, dass Frauen meist nicht so gut Portugiesisch sprechen wie Männer. Erst seit kurzer Zeit sind wir Frauen als Repräsentantinnen unterwegs. Wir wollen damit auch ein Beispiel für andere Mädchen und Frauen geben, was alles möglich ist.
Sie selbst sind nicht das erste Mal in Europa. Was denken Sie: Können Menschen in den Städten von Ihnen lernen, die im und mit dem Wald leben?
Sie sollten lernen, auf ihn zu hören, und eine Sensibilität für ihn entwickeln. Aber es geht nicht nur um den Wald, sondern auch darum, ein Gefühl für seine Mitmenschen und für die Gemeinschaft zu bekommen. Das ist zentral für uns Huni Kuin. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass man das Essen teilt, einfach weil es für alle da ist.
Was finden Sie an der westlichen Lebensweise gut?
Die Möglichkeit zu reisen und die Freiheit, andere Kulturen kennenzulernen und diese Erfahrungen zurück zu unserem Dorf zu bringen.
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