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Die Angst vor dem Abtreibungsverbot
Das Thema reproduktive Rechte war im US-Wahlkampf sehr präsent. Wirklich genutzt hat es den Demokraten wenig
Es sollte das Wahlkampfthema Nummer eins werden: Seit dem Sommer empfehlen sich die Demokraten immer wieder als Garant für reproduktive Rechte. Denn der Schock saß tief, als das Oberste Gericht im Juni konservativen Bundesstaaten erlaubte, das Recht auf Abtreibung zurückzunehmen. Empörende Meldungen gingen durch die Medien: Schulmädchen aus Südstaaten mussten von einem Tag auf den anderen in den Norden transportiert werden, um die Folgen von Vergewaltigung oder Inzest zu behandeln. Bei einem Referendum in Kansas stimmten die Wählerinnen gegen ein Abtreibungsverbot. Das Thema galt als eine Art Brandmauer für die Demokraten in wirtschaftlich zunehmend schwierigen Zeiten.
In Michigan wird bei einer Volksabstimmung eine ähnliche Entscheidung erwartet, die »Initiative für das Recht auf Reproduktive Freiheit« hat gute Chancen auf einen Sieg. Doch auch Ernüchterung macht sich bemerkbar: Es ist zunehmend unklar, ob das Thema genug Wähler*innen mobilisiert, um die Demokraten an der Wahlurne vor einem Debakel zu retten. Zum einen hält der Siegeszug der medikamentösen Abtreibung an: Medikamente, mit denen Frauen selbst ohne ärztliche Hilfe eine Schwangerschaft beenden können, finden seit Jahren immer weitere Verbreitung, Behandlungsvorbote in konservativen Staaten haben den Absatz nochmals erhöht. In Staaten wie Texas sind solche Pillen zwar verboten, doch ist die Ahndung des Gebrauchs kaum möglich – bestellt werden sie im Internet oder bei Freund*innen in liberalen Staaten. Außerdem berichtet das »Wall Street Journal«, dass die Amerikanerinnen inzwischen andere politische Sorgen haben als noch im Sommer: Eine Umfrage von Tony Fabrizio und John Anzalone besagt, dass 54 Prozent der weißen Frauen in Vororten die Wirtschaft bereits jetzt in einer Rezession wähnen und dieses Thema bei ihrer Wahlentscheidung gegenüber allen anderen priorisieren.
Organisierte Abtreibungsgegner wie die Susan B. Anthony List haben der Republikanischen Partei in einem Geheimpapier offenbar geraten, das Thema im Wahlkampf zu vermeiden. Die republikanischen Kandidaten für den Senat in Arizona und Georgia haben sich in der Abtreibungsfrage Richtung Mitte bewegt. Senator Ron Johnson aus Wisconsin empfiehlt nun selber ein Referendum. Zudem haben die Republikaner andere »Kulturkampf«-Themen gefunden: etwa das Verbot von Unterricht über Homosexualität und Transidentität. Für Konservative sind solche Themen genauso mobilisierend, Wechselwähler*innen schrecken sie aber weniger ab. In Michigan behaupteten Abtreibungsgegner, ein Ja beim Referendum bedeutete, dass Kinder dann auch keine elterliche Erlaubnis brauchten, um sich einer geschlechtsangleichenden Operation zu unterziehen.
Fatal war die Annahme der Demokraten, dass das Thema Abtreibung alle Wähler*innen bewegt, über alle Klassenschranken hinaus. Schon im Sommer warnten Experten wie Ruy Teixeira, dass die demokratische Plattform für Abtreibungsrechte, Waffenkontrolle und für den Schutz der Demokratie unterschiedlich bewertet würde. Weißen Wähler*innen mit Hochschulabschluss reicht dieses thematische Trio vollkommen aus, um die Demokraten zu wählen. Latinos, die zweitgrößte ethnische Gruppe nach den weißen Amerikanern, bewerten diese drei politischen Ziele ebenfalls als wichtig, aber längst nicht so wichtig wie Jobs, Konjunktur und Krankenversicherung. Latinos aus der Arbeiterklasse sind zudem überdurchschnittlich patriotisch und polizeifreundlich eingestellt. Sie unterscheiden sich in dieser Hinsicht sowohl von der gebildeten Mittelschicht wie auch von den afroamerikanischen Stammwähler*innen der Demokraten.
Viele Ansichten teilen die Latinos mit allen Wähler*innen, die keinen Hochschulabschluss haben. Echelon Insights wollte im Juni in einer Umfrage wissen, ob die USA das großartigste Land der Welt seien. Teilnehmer*innen, die sich selbst als progressiv bezeichnen, antworten zu 66 Prozent mit nein und zu 28 Prozent mit ja. Hispanics dagegen verneinten dies zu 23 Prozent und bejahten die Aussage zu 70 Prozent, genau wie fast alle Arbeiter*innen.
Den Demokraten fällt es immer schwerer, diese Wähler*innenschichten anzusprechen. Die Empörung über das Urteil des Obersten Gerichtshofs zur Abtreibung im Juni folgte auf die Proteste nach der Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten vor zwei Jahren. Doch schon damals hegten die Demokraten die falsche Hoffnung, dass ihre Agenda für eine Polizeireform in den Wohngebieten der Arbeiterklasse genauso erfolgreich wie in reichen Bezirken sein würde. Letztlich waren es aber vor allem die wohlhabenden Vorstädte, in denen Biden die entscheidenden Stimmen hinzugewann. Es ist fraglich, ob diese Rechnung erneut aufgeht.
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