Kein Nullsummenspiel

Wer Genozide leugnet, macht sich nun strafbar. Ein neues deutsches Gesetz und multidirektionales Erinnern

  • Micha Brumlik
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Leugnung von Genoziden ist künftig in Deutschland strafbar. Es drohen bis zu drei Jahre Haft. Das Gesetz hierzu verabschiedete der Bundestag am 20. Oktober. Die Einzigartigkeit der Shoah, deren Leugnung seit langem gemäß Paragraph 130 (3) StGB unter Strafe steht, wird damit nicht negiert.

Mit dem neuen Gesetz folgt der Bundestag einer internationalen Entwicklung. Versammelten sich doch schon zur Jahreswende 2000/2001 auf Einladung des schwedischen Staates in Stockholm Vertreter*innen von 40 Staaten, um im globalen Zeitalter über humane Werte vor dem Hintergrund eines wieder erstarkten Rassismus zu diskutieren und dabei die allfälligen Lehren aus dem »Holocaust« zu ziehen, das heißt aus der industriellen Massenvernichtung der europäischen Juden und nicht nur der Juden, sondern auch von Millionen von Polen, Sowjetbürgern und weiteren Minderheiten durch das nationalsozialistische Deutschland. Die maßgeblich von dem israelischen Historiker Jehuda Bauer verfasste Abschlusserklärung des »Stockholm International Forum on the Holocaust« stellte dementsprechend fest: »Da die Menschheit immer noch an den Wunden des Völkermordes, der ethnischen Säuberung, des Rassismus und des Fremdenhasses leidet, teilt die internationale Gemeinschaft die schwerwiegende Verantwortung, das Böse zu bekämpfen […]. Wir sind verpflichtet, uns der Opfer, die umgekommen sind, zu erinnern, die Überlebenden, die noch unter uns weilen, zu respektieren und das der Menschheit gemeinsame Streben nach gegenseitigem Verständnis und Gerechtigkeit zu betonen.«

Diesen Gedanken hat der Autor Michael Rothberg in seinem 2009 veröffentlichten Buch »Multidirectional Memory«, das 2021 in deutscher Übersetzung erschien, zu radikalisieren versucht. So kann er zeigen, dass das Jahr 1961, das Jahr der Eröffnung des Jerusalemer Prozesses gegen Adolf Eichmann, in dieser Hinsicht eine zentrale Rolle spielte. Wurde doch in diesem Jahr am 11. April nicht nur jener Prozess eröffnet – nein, am 17. Oktober 1961 spielte sich in Paris ein von Polizisten im Auftrag der Polizeiverwaltung veranstaltetes Massaker an friedlichen algerischen Demonstranten ab, dem 200 Menschen zum Opfer fielen.

Damit gilt: Erinnern und Gedenken stehen demnach nicht nur unter dem Imperativ einer universalistischen Moral, die sich mit durchaus guten Gründen auf die weltgeschichtliche Singularität des Holocaust berufen kann, sondern sind, zumal in einer globalisierten Welt, notwendig mit anderen Erinnerungen verflochten und zwar so, dass es dabei nicht um ein Nullsummenspiel geht.

Als Merkmale der Singularität, der Präzedenzlosigkeit der Shoah werden in der Regel folgende Merkmale aufgeboten: Erstens die bisher weltgeschichtliche – in der Tat beispiellose – Entwürdigung der Opfer, indem sie ihrer Namen benommen und nummeriert wurden, um zweitens buchstäblich wie Insekten vergast zu werden. Drittens die ebenso beispiellose Selbstzweckhaftigkeit und Unbegrenztheit des unter Aufbietung aller Mittel betriebenen Judenmords, der allen Juden auf der ganzen Erde und in aller Zukunft gelten sollte; und das zumal in einer Kriegssituation, in der eigentlich alle Mittel hätten aufgewendet werden müssen, um gegen die Alliierten zu bestehen.

Viertens – und darauf wird weniger verwiesen – handelte es sich bei der Gesellschaft, die dieses Menschheitsverbrechen beging, um eine in jeder Hinsicht höchst entwickelte bürgerliche Gesellschaft. Anders als die Apparatschiks des Stalinismus oder die jugendlichen Dschungelkämpfer der Roten Khmer waren es die Spitzen, die Eliten, aber auch die breiten Schichten der bürgerlichen Gesellschaft im Deutschen Reich, die diese Verbrechen arbeitsteilig begingen. Gleichwohl wird der Singularität dieses Verbrechens nicht genommen, wenn an die Verbrechen des Kolonialismus, sei es im Kongo, sei es im transatlantischen Sklavenhandel erinnert wird.

Auf jeden Fall gilt: Erinnern und Gedenken sind kein Nullsummenspiel. Dafür ist die Türkei, auch und gerade ein Land des westlichen Bündnisses, ein gutes Beispiel. Dass den genozidalen, zentral geplanten Ausrottungsmaßnahmen der jungtürkischen Partei Ittihad ve Terakki in den Jahren 1920/21 mindestens anderthalb Millionen Armenier zum Opfer fielen, bestreitet außer der heutigen türkischen Regierung und einigen ihr botmäßigen Wissenschaftlern niemand mehr. Die Methode indes, mit der die Menschen massenhaft umgebracht wurden, war noch nicht die des Konzentrations- oder Vernichtungslagers, sondern jene Praxis, die auch das nationalsozialistische Deutschland wählte: der Todesmarsch, ein Vorgehen, das auch die nationalsozialistischen Planungen bis hin zum Wannseeprotokoll inspirierte: die »Umsiedlung nach Osten«, die von den jungtürkischen Drahtziehern des Genozids als humanitäre Maßnahme getarnt worden war.

War es doch Adolf Hitler, der in einem Gespräch zu Beginn der Judenverfolgung die Frage formulierte: »Wer spricht heute noch von den Armeniern?« In seinem 1933 erschienenem Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« schreibt der Schriftsteller Franz Werfel, beruhend auf den Zeugnissen von Überlebenden: »Die Evakuierten des Krieges wurden zu ihrem eigenen Schutz aus der Todeszone weggeführt. Selbst im Feindesland ließ man ihnen Pflege und Hilfe angedeihen. Sie verloren die Hoffnung nicht, binnen einer traurigen, aber absehbaren Frist wieder heimkehren zu dürfen. Den Armeniern winkte kein Schutz, keine Hilfe, keine Hoffnung. Sie waren keinem Feinde in die Hände gefallen, der aus Gründen der Gegenseitigkeit das Völkerrecht achten musste. Sie waren einem weit schrecklicheren, einem ungebundenen Feind in die Hände gefallen: dem eigenen Staat.« Dieser Feind, so Werfel, zielt bewusst auf die existenziellen Wurzeln des Menschen: »Zu den Verfemten, den Vogelfreien gehören, die jeder ungestraft töten kann. Eingepfercht in ein schleichendes Rudel von Elenden, in das wandernde Konzentrationslager, wo niemand ohne Erlaubnis auch nur seine Notdurft verrichten darf.«

Werfels Roman wurde im Januar 1934 in Deutschland verboten. Neben seinen immer wieder geradezu unheimlich wirkenden prophetischen Passagen besticht dieses Buch durch eine präzise Analyse des Schicksal der Vertriebenen, Entrechteten und Ermordeten des 20. Jahrhunderts. Es ist dies eine Analyse, die in ihrer Eindringlichkeit das vorwegnehmen sollte, was Hanna Arendt 1951 in ihrem Buch »Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft« entfaltet. Indem Werfel das Schicksal der Armenier als das Schicksal von Verfemten, Vogelfreien darstellt, als schleichendes Rudel von Elenden in einem wandernden Konzentrationslager, wo niemand ohne Erlaubnis auch nur seine Notdurft verrichten darf, hat er vor mehr als 70 Jahren diagnostiziert, was an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert mit Verzögerung, aber umso schmerzhafter sichtbar geworden ist: im Lager, im Konzentrationslager vollzieht und vollendet sich die politische Logik der Moderne.

Vor dem Hintergrund des Israel-Palästina-Konflikts beschließt Michael Rothberg sein Buch »Multidirektionale Erinnerung« mit folgenden Worten, die als Maxime künftigen Gedenkens in einer globalisierten Welt gelten können: »Wir können die strukturelle Multidirektionalität der Erinnerung nicht eindämmen. Selbst wenn es wünschenswert wäre, zwischen unterschiedlichen Geschichten eine Mauer, einen Cordon sanitaire zu ziehen (wie das manchmal der Fall zu sein scheint): Es ist nicht möglich. Erinnerungen sind mobil, Geschichten ineinander verschränkt. Politische Konflikte zu verstehen, erfordert es, die Verflechtungen von Erinnerungen im Kraftfeld des öffentlichen Raums zu verstehen. Der einzige Weg nach vorn ist der der Verdichtung von Erinnerungen.«

Man darf gespannt sein, wie der Nato-Partner Türkei, nach dessen Gesetzen zwar von einem jungtürkischen Massaker an den Armeniern, nicht aber von einem »Genozid« gesprochen werden darf, auf das neue deutsche Gesetz reagieren wird.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.