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Vogelsterben an der Nordsee
Der Ausbruch der Vogelgrippe mitten im Sommer beunruhigt nicht nur die Menschen an der Küste
Lange schon verbreitet sich die Vogelgrippe um die Welt. In diesem Sommer jedoch trat sie zu einem neuen Zeitpunkt auf. Sie erwischte tausende Küstenvögel mitten in ihrer Brutzeit. Betroffen sind auch bereits bedrohte Arten.
Der Berliner Zoo bleibt wahrscheinlich mehrere Wochen geschlossen. Der Grund: Geflügelpest, Vogelgrippe, Aviäre Influenza, drei Wörter für ein Krankheitsbild. Die Aviäre Influenza (von lateinisch Avis/Vogel) sucht sich seit Jahrzehnten ihren Weg durch die Welt. Ungewöhnlich ist der Ausbruch der Krankheit im beliebten Berliner Ausflugsziel daher nicht, seit 2016 gab es hier immer wieder Fälle, zuletzt im Frühjahr dieses Jahres. Auch der Zeitpunkt des Auftretens entspricht den bisherigen wissenschaftlichen Beobachtungen, zwischen Oktober und April ist Saison für die Vogelgrippe.
Geflügelpestviren sind sehr variabel und bilden durch Mutation und genetische Vermischung zahlreiche unterschiedliche Subtypen aus. Erstmals tauchte das Virus H5N1 1997 in zwei Zuchtbetrieben in Hongkong auf. Das Virus vom Typ H5N8 wurde zuerst Anfang 2014 in Südkorea entdeckt. Seitdem ist das Virus in verschiedenen Varianten weltweit unterwegs, betroffen sind Hausgeflügel und Wildvögel. Die Viren treten in zwei Varianten und verschiedenen Subtypen auf: H1 bis 16 in Kombination mit N1 bis 9, H steht für Hämagglutinin- und N für Neuraminidase-Proteine. Laut dem Friedrich-Löffler-Institut (FLI), Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, verursachen geringpathogene aviäre Influenzaviren (LPAIV) der Subtypen H5 und H7 bei Hausgeflügel kaum oder nur milde Krankheitssymptome. Allerdings können diese Viren spontan zu einer hochpathogenen Form (hochpathogene aviäre Influenzaviren, HPAIV) mutieren. Bei diesen Subtypen sind die Krankheitsverläufe dramatisch, die Sterblichkeitsrate liegt bei bis zu 100 Prozent. Verbreitet werden sie nach bisherigen Untersuchungen sowohl durch Zugvögel als auch durch Tiertransporte.
Ungewöhnlich und beunruhigend waren in diesem Jahr Ausbrüche im Spätsommer, besonders die Gebiete an Nord- und Ostsee waren betroffen. Timm Harder, Leiter des Nationalen Referenzlabors für Aviäre Influenza in Greifswald, sprach von einer »neuen Qualität«. Bereits im Mai waren in Deutschland die ersten Verdachtsfälle vom Typ H5N1 außerhalb der sonst üblichen Jahreszeit gemeldet worden.
Die Vogelgrippe erreichte die Nordseeinsel Helgoland im Sommer, mitten in der Brutzeit. Seit 1991 finden sich dort immer Anfang Juni Basstölpel ein, mit 1485 Brutpaaren war 2022 laut Elmar Ballstaedt, Ornithologe beim Verein Jordsand, ein gutes Jahr. Die für ihre roten Buntsandsteinfelsen bekannte Hochseeinsel ist in Deutschland der einzige Ort, an dem die gänsegroßen Meeresvögel brüten. Doch im Juli kam es zu einem intensiven Ausbruch der Vogelgrippe. Täglich musste das Ordnungsamt verendete Vögel einsammeln, das Virus H5N1 wurde nachgewiesen. Wie gravierend der Einschnitt ist, lässt sich am Bruterfolg nachvollziehen. Basstölpel ziehen im Durchschnitt pro Jahr ein Küken auf. Laut Ballstaedt liegt der langfristig beobachtete Mittelwert des Bruterfolges bei 0,6 Küken, in diesem Juli lag die Zahl jedoch nur bei 0,14 Küken, heißt, nur 14 Prozent der Paare schafften es, ein Küken aufzuziehen. »Das ist ein gravierender Verlust«, sagt Ballstaedt. Zudem werden die großen Zugvögelscharen erst jetzt im Herbst erwartet.
Auch andere Kolonien von Basstölpeln in Europa sind betroffen. Bilder des Scottish Seabird Centre zeigen, dass auf dem berühmten Bass Rock vor der schottischen Küste, wo sonst rund 80 000 Brutpaare einen Heidenlärm veranstalten, große Lücken zwischen den einzelnen Nestern liegen. Tausende Vögel sind gestorben. Da die Erkrankung mitten in der Brutzeit zuschlägt und die Vögel in den Kolonien dicht beieinander brüten, sind die Verluste hoch. Zudem können die Meeresvögel zwar bis zu 20 Jahre alt werden, beginnen jedoch erst ab etwa fünf Jahren zu brüten. Wenn Altvögel erkranken und sterben, sind auch die Jungen im Nest oft direkt oder indirekt durch Nahrungsmangel dem Tod geweiht.
Neben den Basstölpeln traf es in diesem Jahr die Brandseeschwalbe, ein laut Roter Liste vom Aussterben bedrohter Küstenvogel. Auch sie wird bis zu 20 Jahre alt. Von März bis September leben die Tiere unter anderem an den europäischen Küsten der Nord- und Ostsee. 2019 gab es laut Bundesamt für Naturschutz hierzulande rund 7500 Brutpaare. Die kleine Vogelinsel Minsener Oog im niedersächsischen Wattenmeer beherbergte in den vergangenen Jahren mit rund 3000 Brutpaaren die größte Brandseeschwalbenkolonie Deutschlands. In diesem Sommer sind nach Angaben des Nationalparks Wattenmeer jedoch rund 60 Prozent der Elterntiere verendet, kaum ein Jungtier hat überlebt. »Dies ist ein massiver Bestandsverlust von prägenden und wertbestimmenden Vogelarten für den Nationalpark. Die Auswirkungen auf das ökologische Gefüge, bei solchen Zugvögeln auch über das Wattenmeer hinaus, lassen sich derzeit überhaupt noch nicht abschätzen«, zeigt sich Peter Südbeck, Leiter der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer, tief besorgt.
Das FLI spricht inzwischen von »existenziell bedrohlichen Populationseinbrüchen bei koloniebrütenden Seevögeln, besonders weil sich das Virus den gesamten Frühling und Sommer vermehren konnte. «Zugvögel, die mit dem Herbstzug in den nächsten Monaten nach Europa kommen, werden wahrscheinlich einem erhöhten Infektionsrisiko unterliegen», schreibt das Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit aus Greifswald. Betroffen sind neben Deutschland die Nordseestaaten Dänemark, Norwegen, Frankreich, Niederlande, Nordirland und Großbritannien. Auch in Spanien, Belgien, Litauen, Portugal und Finnland wurden Fälle – überwiegend H5N1 – nachgewiesen. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) konstatierte zum Ende des Sommers: «Die Epidemie der hochpathogenen Aviären Influenza 2021 bis 2022 ist die bislang größte in Europa beobachtete HPAI-Epidemie mit einem beispiellosen geografischen Ausmaß, die von den Svalbard-Inseln nach Südportugal und der Ukraine reichen und 37 europäische Länder betreffen.» Erstmals ist das Virus H5N1 auch in Südamerika aufgetreten, eine weitere Ausbreitung ist laut FLI wahrscheinlich.
Alarmiert sind daher auch die Geflügelhalter. Immer wieder kommt es zu Ausbrüchen in Nutztierbeständen, tausende Tiere müssen in den Mastanlagen getötet werden. Aktuell stuft das FLI das Risiko einer Ausbreitung von Geflügelpestviren des Subtyps H5 bei Wildvögeln sowie einer Übertragung auf Geflügel und gehaltene Vögel für ganz Deutschland als hoch ein. Der Virustyp könnte möglicherweise endemisch werden, also zukünftig nicht nur saisonal, sondern ganzjährig auftreten.
Eindämmen lässt sich die Vogelgrippe bisher nicht, die Maßnahmen beschränken sich überwiegend auf den Schutz von Nutztieren in den Ställen. So rät das FLI Geflügelhaltern grundsätzlich zur konsequenten Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen. Wildvögel, deren Lebensraum durch die industrielle Landwirtschaft immer weiter eingeschränkt wurde, sollen ferngehalten werden, Nutztiere sind am sichersten im Stall. Im Gegensatz zu Ländern in Asien dürfen Tierbestände in Europa bisher nur in Ausnahmefällen geimpft werden. Geforscht wird jedoch in diese Richtung weiter, in Frankreich etwa startete zu Jahresbeginn eine Versuchsphase mit zwei möglichen Impfstoffen gegen die Geflügelpest. Aktuell fehlen aber noch die rechtlichen Voraussetzungen. Auch das FLI rechnet mittelfristig mit der Möglichkeit, Nutztiere zu impfen. Den Basstölpeln und Brandseeschwalben jedoch nützt das nichts.
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