Erdoğan rüstet sich zur Wahl

Die türkische Armee greift kurdische Gebiete an. Im Juni nächsten Jahres wird in der Türkei neu gewählt

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit einer Woche bombardiert die türkische Armee die autonomen Kurdengebiete im Norden Syriens und des Iraks. Die türkischen Streitkräfte hätten seit Donnerstag in mehreren nordsyrischen Dörfern insgesamt dreizehn Mal angegriffen, berichtete die in London ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte; Opfer habe es nicht gegeben. Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar erklärte hingegen am Freitag, 326 »Terroristen« seien bislang »neutralisiert«, also getötet worden. Das US-Verteidigungsinisterium zeigte sich am Mittwoch laut Pressesprecher Pat Ryder »zutiefst besorgt« über die eskalierenden Angriffe, nannte aber keinen Verantwortlichen.

Der Krieg auf kleiner Flamme richtet sich der Regierung in Ankara zufolge gegen kurdische »Terroristen«. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sucht Vergeltung für das Bombenattentat in Istanbul von vor zwei Wochen. Die Behörden machten nach nur wenigen Stunden die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und ihre angeblichen syrischen Verbündeten verantwortlich. Auch eine Attentäterin war schnell gefunden: angeblich eine syrische Staatsbürgerin, die illegal ins Land eingereist sei. Doch bleiben viele Fragen offen. Eine zügig verhängte Nachrichtensperre verhinderte, dass die Menschen in der Türkei eine andere Lesart als die der türkischen Regierung zu lesen und zu hören bekamen.

Wer auch immer den Anschlag begangen hat, er kam für Staatspräsident Erdoğan zur rechten Zeit: zum einen, um erneut und mit geeignetem Vorwand gegen die Kurd*innen in Syrien und Irak vorzugehen; zum anderen, um den Wahlkampf einzuläuten. Tatsächlich sehen verschiedene politische Beobachter*innen die Angriffe gegen die kurdischen Gebiete als Auftakt zum Wahljahr 2023. Voraussichtlich im Juni sollen sowohl der Präsident als auch das Parlament neu gewählt werden. Erdoğan könnte seine Macht als Staatschef verlieren, Umfragen sehen ihn zwischen 30 und 40 Prozent. In einem zweiten Wahldurchgang wäre eine Niederlage wahrscheinlich, sollten die Oppositionsparteien sich auf die Unterstützung eines Gegenkandidaten verständigen. In dieser Situation könnte Erdoğan außenpolitische Erfolge in innenpolitische Sympathiezugewinne umzumünzen versuchen. Dem vermeintlich starken Mann, der die türkische Nation vor den kurdischen »Terroristen« zu schützen weiß, könnten zahlreiche unentschlossene Wähler ihre Stimme geben. Auch seine Rolle als selbstloser – und selbsternannter – Friedensstifter zwischen den Kriegsparteien Ukraine und Russland wirft etwas Glanz auf die angeschlagene Präsidentenfigur.

Nur wie lange können diese zweifelhaften außenpolitischen Erfolge innenpolitisch Früchte abwerfen? Bis zur Wahl sind es noch sieben Monate, fraglich, ob der Bonus eines siegreichen Feldherrn so lange anhält. »Alle diese Dinge haben keinen langandauernden Effekt«, meint daher Ahmet Ünal Çeviköz. Er sitzt für die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratisch orientierte CHP, im türkischen Parlament und berät als ehemaliger Diplomat den Parteipräsidenten in auswärtigen Angelegenheiten. »Die Probleme nehmen zu, die steigenden Preise, die Inflation, die Wirtschaftskrise«, sagte Çeviköz bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung am Dienstagabend in Berlin. Er gibt sich siegesgewiss und sicher, dass Erdoğan im kommenden Jahr abtreten muss. Tatsächlich haben die meisten Türk*innen ein ganz anderes Problem als die Kurden: Sie leiden unter einer dramatischen Wirtschaftskrise. Das versteht auch Erdoğan und hat deshalb ab Januar unter anderem eine Anhebung des Mindestlohns versprochen.

Dadurch könnte jedoch die ohnehin hohe Inflation weiter steigen. Im Oktober lagen die Verbraucherpreise 85,5 Prozent höher als im Vorjahr, wie das nationale Statistikamt am Donnerstag mitteilte. Seit etwa einem Jahr gehen die Preise stark nach oben; Ende 2021 hatte die Teuerung nur bei etwa 20 Prozent gelegen. Seit längerem sorgt die schwache Landeswährung Lira für Preisauftrieb, da sie in die Türkei importierte Güter verteuert. Hinzu kommen anhaltende Probleme in den internationalen Lieferketten, die Vorprodukte teurer machen. Zudem steigen die Preise von Energie und Rohstoffen, vor allem wegen des Ukraine-Kriegs. Im Gegensatz zu anderen Zentralbanken stemmt sich die türkische Zentralbank nicht mit Zinsanhebungen gegen die Teuerung.

Im Gegenteil: Die Zentralbank senkte den Leitzins am Donnerstag den vierten Monat in Folge nochmals ab – um 1,5 Punkte auf nunmehr neun Prozent. Die Regierung versucht, die desaströse wirtschaftliche Lage schönzureden, verkündete kürzlich stolz einen Anstieg der Exporte. Offizielle Daten zeigten aber, dass der Exportanstieg durch Preissenkungen gekennzeichnet gewesen sei, während vor allem die Energie-Importe teurer geworden seien, berichtet die Nachrichtenwebseite »Al-Monitor«. Dadurch würden erhebliche Ressourcen ins Ausland verlagert.

Unter der Wirtschaftskrise leiden vor allem Kinder. Viele sind gezwungen, zum Familienunterhalt dazuzuverdienen und geben daher die Schule auf. Omer Yilmaz, Vorsitzender des studentischen Elternvereins, scheut sich nicht, vom größten Schulabbruch in der modernen Geschichte der Türkei zu sprechen. Offiziell seien zwischen 2021 und 2022 rund 1,2 Millionen Kinder von 5 bis 17 Jahren in keiner Schule eingeschrieben. »Nimmt man die Schüler hinzu, die Berufsschulen und offene Schulen besuchen, in denen sie vier Tage die Woche arbeiten, so befinden sich fast vier Millionen Kinder außerhalb des regulären Bildungssystems und arbeiten entweder für einen geringen Lohn oder sind auf der Suche nach Arbeit«, erklärte er »Al-Monitor«. Durch den enormen Preisanstieg sei mindestens jede*r zweite türkische Schüler*in von Mangelernährung betroffen, so Yilmaz.

Bleibt die Frage, ob die sozialen Gegensätze die Wähler*innen dazu bringen, sich von Erdoğan ab- und der Opposition zuzuwenden? Hişyar Özsoy, Abgeordneter der linksgerichteten Partei HDP, ist sich da nicht so sicher. Bis zur Wahl seien es nur noch knapp sieben Monate, er sieht aber »keine Mobilisierung in der Gesellschaft«.

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