Russlands neuer Winterkrieg

Während die ukrainische Zivilbevölkerung leidet, gibt es in Moskau Gerüchte über eine weitere Mobilisierungswelle

  • René Heilig
  • Lesedauer: 6 Min.
Menschen im ukrainischen Cherson leiden auch unter der mangelhaften Versorgung mit elektrischem Strom.
Menschen im ukrainischen Cherson leiden auch unter der mangelhaften Versorgung mit elektrischem Strom.

1. Dezember 2022, der 280. Tag des Krieges in der Ukraine. Wie lange er noch dauert, wagt niemand zu prognostizieren. So wie niemand das Grauen, dem Zivilisten wie Militärs bislang schon ausgesetzt sind, in Zahlen fassen mag. Der Krieg entwickelte sich – trotz Unmassen an High-Tech-Gerät – ganz anders, als man solche Waffengänge an Militärakademien gelehrt hat. Stattdessen können historische Vergleiche herangezogen werden. Der weitgehende Stillstand der Fronten und die umso erbitterteren Artillerieduelle erinnern an die Kämpfe des Ersten Weltkrieges im Westen Europas. Die Schlammbedingungen im Frühjahr und nun erneut im Herbst, vor allem im Donezk-Gebiet, lassen Vergleiche mit den Bedingungen zu, denen die deutschen Okkupanten 1942/43 ausgesetzt waren. Unschöne Gedanken an den damals wie heute meteorologisch brutalen Winter schließen sich an.

Eine Parallele wird kaum beachtet: der sowjetisch-finnische Krieg 1939/1940, auch »Winterkrieg« genannt. Die Sowjetunion, die den baltischen Staaten zuvor »Beistandspakte« und Truppenstationierungen abgepresst hatte, um sich gegen das faschistische Deutschland zu sichern, wollte auch eine Pufferzone in Finnland errichten. Ähnliches schwebte nun wohl dem russischen Präsidenten vor. Wladimir Putin wollte Abstand zur Nato aufbauen und das ukrainische Territorium als Verfügungsgebiet herrichten. Doch die Ukraine suchte noch mehr Nähe zum Westen, so wie einst Finnland. Damals griff Stalin an, nun tat Putin es. Beide planten eine schnelle Militäroperation. Wie 1939 glaubte man in Moskau auch im Februar 2022 der eigenen Propaganda vom raschen Zusammenbruch des Gegners. Anders als der Krieg gegen Finnland wurde der gegen die Ukraine zwar langfristig vorbereitet, doch in seiner Intensität und Dauer völlig falsch eingeschätzt.

1939 waren die sowjetischen Truppen miserabel vorbereitet, in der Masse schlecht ausgebildet, nicht geübt im Gefecht verbundener Waffen. Die Elite wurde verheizt, die Kampfmoral sank, viele Soldaten sahen in dem Krieg keinen Sinn. Das lag nicht nur an der unzureichenden Versorgung, sondern auch daran, dass die Befehlshaber sinnlose Angriffe befahlen, wenn die politische Führung Erfolge forderte. Die Furcht vor Repressalien führte dazu, dass die Divisionen ihre Misserfolge nicht nach oben meldeten. Umso effektiver war die mobile Taktik der Angegriffenen, die mit kleinen Gruppen effizienten Widerstand leisteten. Klingt aktuell bekannt.

Die finnische Armee zählte 25 000 Tote, die Rote Armee mehr als fünf Mal so viele. Dazu kamen über 200 000 Verwundete. Eine besser vorbereitete Angriffswelle führte 1940 zu Verhandlungen. Finnland musste große Gebiete abtreten und seine Neutralität erklären. Ironie der Geschichte, dass Helsinki diese nun aufgegeben hat und Teil der Nato werden will. Womit sich die Grenze Russlands zum verhassten westlichen Bündnis um 1300 Kilometer verlängert.

Politisch war Moskau damals isoliert. Aktuell ist es ähnlich. Nato und EU zeigten unerwartete Stabilität und unterstützen das angegriffene Land. Zum fünften Mal bereits trafen sich die Nato-Außenminister in diesem Jahr, um über die weitere Unterstützung der Ukraine zu beraten. Putin, so sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Dienstag, sei militärisch mit allen seinen Zielen gescheitert. Deshalb lasse er jetzt »umso brutalere Angriffe auf die ukrainischen Städte und auf die ukrainische Infrastruktur« führen. Er setze den »Winter als Kriegswaffe« ein. Was nicht anders zu erwarten war.

Erstaunlich spät begannen Nato und EU mit dem Nachdenken darüber, wie man die Bevölkerung in der Ukraine über den Winter bringen kann. Welch Armutszeugnis, wenn Annalena Baerbock ihre Untätigkeit zu erklären versucht. Sie hätte, sagte die Außenministerin, es sich niemals vorstellen können, dass »dieser brutale Bruch der Zivilisation so geführt wird«. Russland, so empörte die Grünen-Politikerin sich durchaus zurecht, nehme mutwillig in Kauf, »dass Kinder, dass Alte, dass Familien erfrieren, dass sie verdursten, dass sie verhungern sollen«. Diese Bilder fürchtet man nicht im Kreml, wohl aber in den westlichen Hauptstädten.

Beim Treffen in Bukarest redeten Minister der Nato-Staaten über dringend notwendige Dinge wie Decken, Zelte, warme Kleidung, Generatoren, Transformatoren und über Möglichkeiten, die Wasser- und Abwassersysteme wieder in Gang zu bringen. Parallel dazu versuchen westliche Militärs und Rüstungsexperten, den Nachschub an Waffen und Material nicht abreißen zu lassen. Das gelingt immer weniger. Dabei ist absehbar, dass es in den kommenden Monaten einen hohen Bedarf an Artilleriemunition geben wird. Das ist eine Folge der erstarrten Fronten, die keine Seite derzeit in Bewegung bringen kann.

Die ukrainischen Truppen, insbesondere die besonders geforderten Artilleriebrigaden, sind kompliziert ausgerüstet. Die Masse der Systeme stammt aus Sowjetzeiten: Kaliber 152 mm und 122 mm. Deren Munitionsreserven dürften zur Neige gehen. Es ist – trotz großer Anstrengungen der USA – weltweit kaum Nachschub zu bekommen. Ebenso ist es aber auch mit den westlichen Standardkalibern. Die westlichen Depots sind weitgehend geleert, die Produktion neuer Granaten hat Grenzen. Noch schwieriger ist es bei sogenannter intelligenter Munition. Auch Flugabwehrwaffen sind Mangelware. Die vor allem von osteuropäischen Nato-Partnern derzeit vorgebrachte Forderung nach mehr Waffen und Munition oder gar einer Aufnahme der Ukraine in das Bündnis schafft keine Abhilfe. Die Gefahr würde steigen, dass die Allianz noch stärker in einen Krieg mit Russland hineingezogen wird. Nichts fürchten die Nato-Spitzen im Moment mehr.

Es ist absehbar, dass sich die Fronten erst wieder bewegen können, wenn der gefrorene Boden größere Angriffsoperationen zulässt. Es gibt Anzeichen, dass Moskau sich – wie 1940 in Finnland – darauf vorbereitet. So gibt es Gerüchte über eine neue Mobilisierungswelle Mitte Dezember; auch die Umstrukturierung der Truppen, weg von den bisherigen Bataillonskampfgruppen, deutet darauf hin.

Nun wäre Zeit für mehr politische Aktivität des Westens. Ein Waffenstillstand hätte – wenn er von westlichen Staaten garantiert wird – nichts mit einem Einknicken vor Putin zu tun. Die Nato müsste dafür allerdings aufhören, Kiew die Richtung ihrer Politik zu überlassen. Dass die Ukraine auf Dauer alles bekommt, was ihr Militär benötigt, ist weder leistbar noch hilfreich. Derartige Überlegungen scheinen in Washington zu beginnen. Die russische Regierung versucht, sie mit der Aussicht auf einen neuen Start-Abrüstungsvertrag zu beflügeln.

Baerbock redete in Bukarest zwar über ausgemusterte Dieselloks, die man in der Ukraine als Stromerzeuger nutzen könnte. Man hat aber noch nicht gehört, dass sich die Außenministerin mit erfahrenen Krisenmanagern in Klausur begeben will und das Grundgesetz ernst nimmt. Bereits in dessen Präambel heißt es, dass das deutsche Volk, »von dem Willen beseelt (ist), als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«.

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