Geschichtsstunde mit Lücken

Der Bundestag hat die Hungersnot in der Ukraine in den 30er Jahren als Völkermord eingestuft

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 5 Min.

Am Mittwochabend winkte Oleksij Makejew von der Besuchertribüne des Bundestags. Der ukrainische Botschafter in Deutschland hatte sich auf den Weg ins Parlament gemacht, weil dort eine Entscheidung anstand, die für die Regierung und viele Bewohner seines Landes von großer Bedeutung war. Die Fraktionen der oppositionellen Union sowie der Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP wollten die Hungersnot in der damaligen Sowjetrepublik zu Beginn der 30er Jahre, auch Holodomor genannt, als Völkermord einstufen. Nicht weit entfernt von Makejew saß sein Vorgänger Andrij Melnyk, der inzwischen stellvertretender Außenminister der Ukraine ist. Melnyk hatte wegen seines undiplomatischen Auftretens in der Bundesrepublik viel Porzellan zerschlagen.

Mit Blick auf den vorliegenden Antrag konnte aber sogar Melnyk zufrieden sein. Denn dieser entsprach weitgehend dem Inhalt eines Textes, den die ukrainische Botschaft Anfang des Jahres 2020 auf ihrer Website veröffentlicht hatte. Darin wurde der Holodomor, dem nach Schätzungen bis zu vier Millionen Menschen zum Opfer fielen, als »Genozid an der ukrainischen Nation« interpretiert. Dieser sei »von der sowjetischen Führung mit Joseph Stalin an der Spitze mittels künstlich organisierter Massenhungersnot zwecks Vernichtung der Ukrainer, endgültiger Auslöschung des ukrainischen Widerstandes gegen das Regime und des Strebens der Ukrainer nach Aufbau eines selbstständigen, von Moskau unabhängigen ukrainischen Staates verübt« worden. Die Mehrheit des Bundestags war ebenso wie der Autor des Textes auf der Website der ukrainischen Botschaft der Ansicht, dass keine Wetterkatastrophen beziehungsweise Missernten oder ähnliches den massenhaften Tod der Menschen verursacht hätten, sondern allein die Staatsführung in Moskau die Verantwortung trage.

Dabei haben selbst Historiker, die der ukrainischen Regierung mit Sympathien begegnen wie der US-Amerikaner Timothy Snyder, in den vergangenen Jahren differenziertere Untersuchungen zum Holodomor veröffentlicht. Snyder, übrigens gern gesehener Gast bei der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, verwies vor einigen Jahren in einem Beitrag in der »Welt« auf die Missernte in der Ukraine im Jahr 1931. »Die Gründe dafür waren vielfältig: schlechtes Wetter; wenige Arbeitstiere, nachdem die Kleinbauern das Vieh lieber schlachteten als es an das Kollektiv zu verlieren; fehlende Traktoren; Erschießung und Deportation der besten Bauern sowie die Unterbrechung des Erntezyklus durch die Kollektivierung selbst«, schrieb Snyder. Das Handeln von Stalin in der Folgezeit interpretierte er dann als »Kampagne für politisch motiviertes Aushungern«.

Der Grünen-Politiker Robin Wagener meinte, Parallelen zur Gegenwart erkennen zu können. »Nun versucht erneut ein Diktator, die Ukraine zu unterwerfen«, sagte Wagener. Gemeint war Präsident Wladimir Putin, dessen Armee einen Krieg gegen die Ukraine führt.

Auch Michael Brand von der CDU schwang sich zum Experten für Osteuropa auf und meinte, dass Stalin von Putin wieder zu einer Ikone gemacht worden sei. Dabei ist bekannt, dass Putin neben seiner Sowjetfolklore eher Begeisterung für die Eroberungspolitik der einstigen Zaren zeigt. Vor allem Peter der Große hat es dem russischen Präsidenten angetan. Zum Abschluss seiner Rede wollte Brand bei Melnyk und Makejew mit seinen Sprachkenntnissen punkten. Er erhob den Blick in Richtung Zuschauertribüne, führte seine rechte Hand aufs Herz und rief: »Slawa Ukrajini.«

Der nationalistische Gruß »Ruhm der Ukraine« ist in dem Land mittlerweile allgegenwärtig, seine Geschichte aber nicht allen bekannt. Verwendet wurde er unter anderem von der Organisation Ukrainischer Nationalisten, kurz OUN, um Stepan Bandera. Diese hatte die Sowjetunion als Hauptgegner ausgemacht und kollaborierte zeitweise mit den Nazis. In der Geschichtsstunde des Bundestags wurde darüber kein Wort verloren, auch nicht im Antrag, der zur Abstimmung stand. »Die Ukraine hatte über weite Strecken des vergangenen Jahrhunderts unter zwei totalitären Systemen zu leiden. Sie war Opfer des Hitler-Stalin-Paktes – der verbrecherischen, militärischen Aufteilung Osteuropas zwischen zwei selbsternannten Großmächten – und ab 1941 in besonderem Maße Schauplatz deutscher Menschheitsverbrechen im Zweiten Weltkrieg«, hieß es dort lediglich.

Die Koalition und die Union leiten daraus eine besondere Verantwortung für die Bundesrepublik ab, der Ukraine im Krieg mit Russland beizustehen. Faktisch geschieht dies vor allem durch die Lieferung von Kriegsmaterial. Ulrich Lechte von der FDP fasste die Ziele zusammen: Die Ukraine müsse den Krieg gewinnen und Putin scheitern.

Viele Politiker der Linkspartei halten das für unrealistisch und wünschen sich einen größeren Einsatz westlicher Staaten für einen Waffenstillstand. Auch den Holodomor bewerteten sie anders. Gregor Gysi verurteilte, dass Stalin die Menschen in unterschiedlichen Teilen der Sowjetunion millionenfach verhungern ließ. Industrialisierung und Zwangskollektivierung seien mit Terror vorangetrieben worden. Allerdings hatte der Linke-Politiker ein Problem damit, dass diese Verbrechen als Völkermord bezeichnet werden sollten. »Die Motive waren nämlich nicht rassistisch, sondern vielmehr politisch«, erklärte Gysi. Opfer seien Gegner der Kollektivierung gewesen. Aus seiner Sicht sollte auch nicht vergessen werden, welchen Beitrag die Sowjetunion zur Zerschlagung des Hitler-Faschismus geleistet habe.

Die Linke enthielt sich, als über den Antrag abgestimmt wurde. Ebenso verhielt sich die AfD. Deren Abgeordneter Marc Jongen warf der Regierung vor, das Gedenken an den Holodomor instrumentalisieren zu wollen. Er wandte sich gegen eine »historische Gleichsetzung« mit dem heutigen Krieg in der Ukraine.

Der alljährliche Gedenktag in dem Land war am Samstag begangen worden. Präsident Wolodymyr Selenskyj nahm daran teil und legte Blumen nieder. Nun lobte er das Votum des Bundestags. »Dies ist eine Entscheidung für Gerechtigkeit und für die Wahrheit«, sagte Selenskyj am Mittwochabend in seiner täglichen Videoansprache. »Und das ist ein sehr wichtiges Signal für viele andere Länder der Welt, dass es dem russischen Revanchismus nicht gelingen wird, die Geschichte umzuschreiben.« Auch Makejew fühlte sich bestätigt. Er verbeugte sich zum Abschied auf der Besuchertribüne des Parlaments.

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