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Bestattungsfeiern als Selbsterfahrung
»nd«-Kolumnistin Olga Hohmann hat auf der Beerdigung eines Unbekannten viel über die verbindende oder entzweiende Wirkung der Musik gelernt
Vor ein paar Jahren war ich zu der Beerdigung eines Mannes eingeladen, zu dem ich keinerlei Beziehung hatte. Ich war als Begleitung meiner Tante dort, der Verstorbene war ein Studienfreund von ihr. Er war ganz plötzlich mit Ende 40 auf einem Bürgersteig im Berliner Prenzlauer Berg zusammengebrochen und an Herzstillstand gestorben. Nicht nur ich hatte keine Beziehung zu dem Verstorbenen, auch meine Tante hatte ihn schon seit über 20 Jahren nicht gesehen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.dasnd.de/hohmann
Er war in Berlin-Tempelhof aufgewachsen, seine Mutter arbeitete in einem Imbiss auf der Potsdamer Straße und sein Vater als Schornsteinfeger. In den 80er Jahren war er einige Zeit in der Kreuzberger Anarcho-Szene unterwegs, wo er auch meine Tante traf. Mit Mitte 20 ging er auf Reisen, als, wie man heute sagen würde, »Backpacker«: durch Indien, Nepal, China und Tibet. Von dieser Reise kam er nie zurück: Er blieb in Tibet und fing an, sich für die Erhaltung von tibetischer Architektur zu engagieren.
Aufgrund der Plötzlichkeit seines Todes war es dem Verstorbenen unmöglich geblieben, ein Band zwischen den durch seine Auswanderung unverbunden gebliebenen biografischen Welten Berlin und Tibet herzustellen. Ähnlich widersprüchlich wie diese beiden Orte war auch die in der atheistischen Kapelle anwesende Trauergesellschaft: Wegen der kulturell verschiedenen Trauerrituale war nur etwa die Hälfte der Anwesenden in Schwarz gekleidet – davon wiederum nur einige in Anzügen und langen Mänteln und andere, wie meine Tante, in schwarzer Lederjacke mit Fransen. Die andere Hälfte der Anwesenden war in Weiß gekleidet – dieser Teil der Gesellschaft bestand aus den aus Tibet angereisten Freund*innen und Kolleg*innen. Die ungewöhnliche Konstellation aus Trauernden stellte in der atheistischen Friedhofskapelle Konfusion her. Während die Reden verlesen wurden, fühlten sich immer nur die zur Partei der jeweiligen Redner*in gehörenden Gäste angesprochen, alle anderen blieben unberührt.
Obwohl beide Seiten sich gegenseitig wohlgesonnen waren, stellte sich keine kollektive Emotionalität her. Es passierte genau das, was bei einem Ritual nicht passieren darf: Für alle trauernden Seiten gab es Zuschauer*innen, ein permanentes »Außen«. Alle Anwesenden versuchten, so viel wie möglich zu »fühlen« – und scheiterten aufgrund der überfordernden sozialen Situation daran.
Noch größere Verwirrung stiftete die Musikauswahl: Die nahen Verwandten und die engsten der aus Tibet angereisten Freunde hatten im Vorhinein Musikwünsche geäußert, die live auf dem Synthesizer mit Orgel-Funktion oder vom Band abgespielt wurden.
Obwohl Musik den Ruf hat, eine Kunstform zu sein, die eine kulturübergreifende Wirkung hat, gab es zwischen der Auswahl, die die Berliner Eltern getroffen hatten, und der Auswahl der tibetischen Freunde keine Überschneidungspunkte. Während (gerecht aufgeteilt) immer abwechselnd die Musik der einen oder der anderen Seite gespielt wurde, weinte nur jeweils die zur Musik gehörende Seite der Trauergäste und blieb dann beim nächsten Stück irritiert, aber aufgrund der Seriosität der Situation gefasst. Alle (außer die Alt-Anarchos, die in der Musikauswahl unterrepräsentiert waren und deshalb ironische Langeweile performten) versuchten krampfhaft, eine Unmittelbarkeit des Traurigseins herzustellen – und alle scheiterten daran.
In der Kapelle des Friedhofs am Mehringdamm gibt es die Regel, dass der jeweils diensthabende Mitarbeiter das letzte Musikstück der Zeremonie auswählen darf. Es kann sich dabei um jede Form der musikalischen Literatur handeln: Meistens suchen die damit beauftragten Personen ein Musikstück aus, das die Drastik des Anlasses auf eine Art ausdrückt, zu der Menschen mit verschiedenstem Hintergrund eine Verbindung aufbauen können. Der Mitarbeiter an diesem Tag traf die in jeder Hinsicht richtige Auswahl – und rettete damit die unlösbar scheinende Situation: Es war das Jahr 2011, und eine junge Sängerin aus Upstate New York, die besonders bekannt für ihr bewegungsloses, fast maskenhaftes Gesicht und Auftreten war, hatte gerade einen Song über ihren Boyfriend geschrieben, der täglich mehrmals auf fast jedem Radiosender lief. Wie viele Menschen im Jahr 2011 war auch der Mitarbeiter der atheistischen Aussegnungskapelle offensichtlich von diesem Song berührt, und in erschreckender Treffsicherheit entschied er sich deshalb auch bei dieser Beerdigung für diesen Song.
In dem Moment, in dem die ersten Akkorde von Lana Del Reys »Video Games« über die Anlage des kleinen Raums gespielt wurden, fingen bei jeder der etwa 60 Personen im Raum die Tränen an, übers Gesicht zu fließen, manche schluchzten sogar laut auf, als hätte sich der Impuls zu weinen, in den Momenten der Nicht-Erfüllung angestaut. Der herzzerreißende Popsong über einen Playstation spielenden jungen Mann aus den USA hatte die verbindende Wirkung, die vorher ausgeblieben war, er wurde zum erlösenden, zum ersten und einzigen kollektiv-rituellen Moment an diesem Vormittag. Es gab endlich kein störendes Außen mehr, in Lana Del Reys Stimme lag die Verbindlichkeit des Schmerzes über den viel zu frühen Tod des geliebten Menschen – und jede der anwesenden Personen fühlte sich in ihrer speziellen Verbindung zum Toten von Lana verstanden und ausgedrückt.
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