Als Büroklammer im EU-Metaverse

Wie die Politik die jungen Menschen (nicht) begeistert

  • Linda Peikert
  • Lesedauer: 3 Min.
Avatare sollen auf der virtuellen EU-Beachparty wohl für Stimmung sorgen
Avatare sollen auf der virtuellen EU-Beachparty wohl für Stimmung sorgen

Heute Vormittag sitze ich in einer Schlange: Schon über eine halbe Stunde warte ich am Einlass der virtuellen Tür zur EU-Beachparty. Für einen Mittwochvormittag finde ich das überraschend lang, also so lange würde ich doch um die Uhrzeit noch nicht mal bei einer Offlineparty in Berliner Clubs anstehen. »Manchmal wird selbst im Metaverse der Raum knapp«, steht auf meinem Bildschirm als Erklärung. Im Hintergrund eine etwa siebensekündige Kamerafahrt über animierte grüne Sträucher, die sich in Dauerschleife wiederholt. Die animierten Sträucher machen mich inzwischen ganz kirre. Würde ich nicht beruflich den virtuellen Raum besuchen wollen, wäre mir das schon zu nervig. Werden hier die gleichen Methoden wie in Nachtclubs angewendet? Lange unnötig warten lassen, damit die Veranstaltung interessanter wirkt?

Die EU hat am 29. November zu einer Strandparty geladen. Die »Global Gate Gala« richtet sich an junge Menschen zwischen 18 und 35 Jahren. Innovativ und zielgruppengerecht soll die Party werden, dachten sich wohl die Veranstalter*innen. Und worauf stehen die »coolen Kids« von heute? Klar doch: Internet. Weil es seit Corona wohl noch nicht genug Onlineveranstaltungen, Onlinemeetings oder Onlinepartys gab, fand die Veranstaltung in einem extra dafür entwickelten Metaverse statt. Das haben sich die Organisator*innen etwas kosten lassen: 387 000 Euro soll laut verschiedener Medienberichte die virtuelle Partylocation mit animiertem türkisfarbenem Meer, weißem Strand, verschiedenen Bereichen mit Videovorführungen und einer Beachparty gekostet haben. Für Getränke oder Häppchen sorgen die Gäste zu Hause vor ihrem Computer selbst.

Lesen Sie auch: Zuckerbergs Zeitenwende – Facebook und Instagram verändern ihren seit Jahren bewährten Algorithmus

Zu dem Event am 29. November sollen insgesamt gerade mal sechs Teilnehmer*innen erschienen sein – einer davon der Journalist Vince Chadwick. Er zitiert in seinem Text für Devex einen Pressesprecher: Das Angebot richte sich an junge Menschen, die sich nicht sonderlich für Politik interessieren, sondern vor allem von Tiktok oder Instagram fasziniert seien. Diese Kampagne solle die EU-Aktivitäten im globalen Kontext in das Bewusstsein der Zielgruppe rücken. Die Plattform wurde nach dem »Gala Abend« nicht offline genommen, so kommt es, dass ich heute in der Warteschlange sitze.

Nach etwa 45 Minuten ist es soweit: Schnell noch meinen Avatar erstellen. Der sieht ein bisschen wie die Mischung aus einer Büroklammer und einem elastischen »Rohrsystem« aus. Identifizieren tue ich mich damit ehrlich gesagt nicht. Egal, los geht’s! Mein Aufenthalt im Global Gateway Metaverse beginnt im »Grand Hall« – einer Art virtuellem Ausstellungsraum. Auf einer Karte lassen sich verschiedene Orte mit jeweils einem Programm anklicken. Mithilfe der Pfeiltasten kann mein Avatar durch die virtuelle Insel laufen. Mit anderen Nutzer*innen direkt in Kontakt zu treten, erweist sich als schwierig. Am rechten Bildschirm gibt es lediglich eine Chatspalte, in die alle, die online sind, etwas reinschreiben können.

Wo sich ihre Avatare in dem Moment befinden, ist mir nicht ersichtlich. Einige programmierte Avatare tanzen ambitioniert zu elektronischer Musik. Die Nachrichten der anderen User*innen im Gruppenchat klingen wenig begeistert: Ich lese »was soll das hier?«, »langweilig« oder »ich stecke fest«. Auch ich habe etwas Koordinationsschwierigkeiten, stelle dann fest, dass die vier Emojis am unteren Bildschirmrand ausladende Bewegungen bei meinem Büroklammer-Avatar provozieren. Ich habe also die Möglichkeit zu hüpfen, mir sich wiederholende Technomusik anzuhören, eine Handvoll Kurzvideos anzugucken oder mich mit anderen verzweifelten User*innen im Gruppenchat auszutauschen. Wenn die EU damit näherbringen möchte, wie sie auf der Weltbühne agiert, spricht das für sich.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -