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Die Ablehnung einer Offerte
Eine Replik auf die Erinnerungen von Egon Krenz an den 17. Juni 1953
Egon Krenz, von dessen Erinnerungen hier nicht weiter die Rede sein soll, glaubt, im Frühjahr 1989 durch Erich Honecker einer besonderen Einweihung teilhaftig geworden zu sein; sie bezog sich auf ein zeitgeschichtliches Datum von einiger Bedeutung, den 17. Juni 1953. »Wenn Berija und seine Leute den 17. Juni nicht provoziert hätten«, zitiert Krenz eine Äußerung von Erich Honecker, »wäre es nie zum Einsatz sowjetischer Panzer gekommen«; er beruft sich auf eine Mappe mit streng geheimen Dokumenten, in die Honecker den Mitgliedern des Politbüros damals Einblick gewährt habe. Aber diese Mappe, deren Inhalt 1991 im Rowohlt Verlag in hoher Auflage veröffentlicht wurde, enthält nichts dergleichen. Die Provokation lag in der Verbindung drastischer Lohnkürzungen zu Lasten der Arbeiterschaft des Landes mit der vorbereitungslosen Verkündung einer unerlässlichen Kurskorrektur; beides war nicht das Werk des Innenministers Berija, sondern seiner Widersacher im sowjetischen Politbüro.
Die Mappe mit Honeckers Geheimpapieren (Peter Przybylski veröffentlichte sie im umfangreichen Anhang seines Buches »Tatort Politbüro. Die Akte Honecker«) enthält neben vielem anderen auch die von der sowjetischen Führung am 2. Juni 1953 einer nach Moskau berufenen SED-Delegation mit Walter Ulbricht und Otto Grotewohl unterbreiteten »Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR«. Neun Tage später legte sie die SED der Verkündung eines "Neuen Kurses" zugrunde; es war die umfassende Zurücknahme der brachialen Klassenkampfpolitik, die die Partei seit dem Juli des Vorjahrs unter der Parole »Aufbau des Sozialismus« betrieben hatte. Sie war Stalins Reaktion auf die Zurückweisung der im Frühjahr 1952 erklärten Bereitschaft der Sowjetunion gewesen, mit einem als parlamentarische Demokratie vereinigten und militärisch neutralisierten Deutschland einen Friedensvertrag im Rahmen der vier Siegermächte abzuschließen.
Die Ablehnung dieser Offerte durch die Adenauer-Regierung im Bund mit den Westmächten hatte der Sowjetführer als eine Kriegserklärung des Westens aufgefasst und der SED danach jene linksradikale Politik freigegeben, die zu schwerwiegenden Versorgungsschwierigkeiten und einer Massenflucht von Arbeitern, Bauern, Handwerkern, Privatunternehmern und Angehörigen der Intelligenz geführt hatte. Dass dieser Kurs von der sowjetischen Partei gebilligt worden war, verschwieg das Rücknahmepapier von Anfang Juni nicht, der Rigorismus der Durchführung aber war die Sache der von Ulbricht kommmandierten SED gewesen, deren Politbüro der Generalsekretär mit Hilfe seines Sekretariats weitgehend ausgeschaltet hatte.
Inzwischen war Stalin seit zwölf Wochen tot; ein Triumvirat aus dem Ministerpräsidenten und Parteichef Malenkow, dem Innenminister Berija und dem Parteisekretär Chruschtschow ging daran, schwerwiegende außenpolitische Krisenherde zu beheben. Ulbricht und Grotewohl wurde ein Katalog von Maßnahmen auferlegt, für dessen Verfasser der kurz zuvor zum Hohen Kommissar der Sowjetunion in der DDR ernannte Botschafter Wladimir Semjonow gelten konnte, der aus seiner Berliner Amtstätigkeit als politischer Berater der Sowjetischen Kontrollkommission alle Einzelheiten der begangenen Fehler kannte, schon weil er sie selbst, teilweise in Opposition zu dem Oberkommandierenden Tschuikow, hatte herbeiführen helfen. Nach der Rückkehr von Walter Ulbricht und Otto Grotewohl nach Berlin beschlossen die SED-Instanzen die auferlegte Rückwende; am 11. Juni standen die Einzelheiten in den Zeitungen der DDR und bewirkten das fundamentale Aufatmen einer Bevölkerung, die zehn Monate lang unter Repressionen gegen fast alle Schichten der Bevölkerung gelitten hatte. Die Erleichterung war umso größer, als sie sich mit der begründeten Aussicht auf Verhandlungen zur deutschen Vereinigung verband; der Ausrufung des "Neuen Kurses" folgte eine Woche großer Hoffnungen.
Sie deutete auf eine Entmachtung Ulbrichts, aber sie war keine Provokation zum Aufstand, sondern eine Befriedungsmaßnahme. Die Provokation kam von einer anderen Seite, denn Semjonow und die SED-Führung hatten bei allen verkündeten Erleichterungen eine Schicht, eine Klasse der Bevölkerung übersehen: deren herrschende Klasse, das Proletariat. Die diesem zugedachte Pression war noch nicht vollzogen, stand aber unmittelbar bevor, in Gestalt einschneidender Normerhöhungen auf allen Gebieten der industriellen Produktion. Die damit verbundenen Lohnsenkungen beliefen sich auf bis zu 25 Prozent und würden spätestens am 15. Juni, bei der Auszahlung der Gehälter wirksam werden. Die Kampagne für diese Normerhöhungen war im Hinblick auf den bevorstehenden 60. Geburtstag des Generalsekretärs erfolgt, der einen hemmungslosen Personenkult mit sich trieb. Bei der Moskauer Zusammenkunft hatte ihn Lawrentij Berija mit aller Schärfe für die eingetretene Krise verantwortlich gemacht und darauf gedrungen, dass er nach einer Übergangsfrist von zwei Wochen zurücktrete.
Rudolf Herrnstadt, der für Agitation und Propaganda verantwortliche ZK-Sekretär, hatte die Gefahren einer jähen Kurswende vorausgesehen; er hatte Semjonow um Aufschub der Veröffentlichung gebeten. »Um eine nicht zu verantwortende Chocwirkung« zu vermeiden, gelte es, Partei und Öffentlichkeit auf die Kursänderung vorzubereiten: »Geben Sie uns 14 Tage!« hatte er den frisch berufenen Hochkommissar angefleht, aber Semjonow hatte die Frist nicht gewährt. »In 14 Tagen«, hatte dieser ihn beschieden, »werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben«.
Spielte Semjonow ein doppeltes Spiel? Er konnte den Untergang der DDR nicht wollen, aber was wollte er dann? Und warum hatten Mitteilungen über den sich Anfang Juni ausbreitenden Widerstand von Teilen der Arbeiterschaft gegen die drohende Lohnminderung den umfassend informierten Hochkommissar nicht dazu bewogen, von der brisanten Normenerhöhung abzugehen?
Semjonow selbst hat Auskunft über seine Haltung in diesen Mai- und Juni-Tagen gegeben. Er hat es in den Erinnerungen getan, die er nach dem Ende der Sowjetunion in einer Villa am Rhein nahe Bonn zu Papier brachte. Sie sind postum erschienen; in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung haben sie 1995 in deutscher Sprache das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Semjonow war Ende Mai 1953 in eine Verschwörung einbezogen worden, die Nikita Chruschtschow, der sowjetische Ministerpräsident Georgi Malenkow und der Verteidigungsminister Nikolai Bulganin gegen Berija eingegangen waren, der als Innenminister alle Fäden in der Hand hatte und im Bewusstsein seiner Machtstellung darangegangen war, dem ökonomisch und sozial überlasteten Land an zwei weltpolitischen Fronten Entlastung zu verschaffen: im fernen Asien im Korea-Krieg, wo ein Waffenstillstand eingeleitet wurde, und in Europa durch die Behebung der gefährlichen Ost-West-Spaltung, bei der drei Viertel Deutschlands im Begriff waren, unter amerikanischer Führung militärisch aufgerüstet zu werden. Im Kontakt mit Churchill, der dasselbe Interesse an einer europäischen Entspannung bekundete, hatte der Innenminister das Ende des Kalten Krieges ins Auge gefasst und das sowjetische Politbüro auf eine Preisgabe des DDR-Sozialismus als Vorleistung einer Friedenslösung für das vereinigte Deutschland eingestellt. Dafür sprachen elementare ökonomische Interessen, und nicht nur betreffs der Entlastung von Rüstungsausgaben. Die DDR war durch Reparationen, Besatzungskosten, Politikversagen und beginnende Aufrüstung so ausgeblutet, dass ihre Weiterexistenz den Einsatz sowjetischer Hilfslieferungen erfordert hätte; dagegen stellte der abzuschließende Friedensvertrag für die Sowjetunion große ökonomische Vorteile in Aussicht.
Es war der Plan eines Mannes, der als Innenminister und Geheimdienstchef über die überanstrengte innere Lage der Union besser als andere Bescheid wusste. Schon wenige Tage nach Stalins Begräbnis (bei der Aufbahrung hatte ein Massenauflauf Hunderte von Menschen erdrückt), hatte er die Erwähnung des Alleinherrschers in Presse und Rundfunk unterbunden und bald darauf Hunderttausende aus den Straflagern entlassen, ohne dass zwischen politischen und kriminellen Häftlingen unterschieden worden wäre; Auswirkungen auf die Sicherheitslage in den sowjetischen Großstädten waren nicht ausgeblieben. Der Geheimdienstchef als sich übereilender Entstalinisierer – es war der Versuch, die Bürde des Stalinschen Regimes im Alleingang abzuschütteln und sich zugleich von dem Odium des Mittäters zu befreien.
Berijas Plan, eine europäische Friedensoffensive mit dem Sozialismus-Verzicht in der DDR zu verbinden, stieß auf den erbitterten Widerstand der sowjetischen Armeeführung, die die DDR nicht nur als Unterpfand ihres opferreichen Sieges über Hitlerdeutschland betrachtete, sondern auch als Sicherheitsglacis gegenüber Angriffen seitens des amerikanisch dominierten Westens; John Foster Dulles, der Außenminister der 1953 neu gebildeten US-Regierung, hatte im Verhältnis zur Sowjetunion die Parole Rollback ausgegeben. Aber die Fronde aus Chruschtschow, Malenkow und Bulganin, der auch der Außenminister Molotow angehörte, fühlte sich zu schwach, um ihren Widerstand gegen Berijas Pläne offen vorzutragen. Sie veranlasste vor einer ZK-Sitzung Ende Mai auch Semjonow, seinen Widerspruch zurückzuhalten, und setzte ganz offenbar auf die Folgen der innenpolitischen Erschütterung, die eine jähe politische Kursänderung für die Stabilität der DDR mit sich bringen würde; von daher erklärt sich Semjonows Widerstand gegen die von Herrnstadt erbetene Vorbereitungsfrist. Scheinbar folgte der Hochkommissar dem aus Moskau ergangenen Auftrag, in der DDR eine Regierungsumbildung vorzubereiten, und kontaktierte dazu einen bürgerlichen Politiker wie den CDU-Vorsitzenden Otto Nuschke; unter der Hand arbeitete er nach seinem eigenen Zeugnis »wie ein Kanalarbeiter, der in Dunkel und Kälte gemeinsam mit Gleichgesinnten einen unterirdischen Tunnel vorantreibt«.
Er selbst und die Kontrollkommission unter dem neu berufenen General Gretschko übersahen geflissentlich die Anzeichen der sich anbahnenden Streikwelle gegen die angekündigten Normerhöhungen. Dasselbe tat Walter Ulbricht, der noch den ganzen Parteiapparat in der Hand hatte. Nachdem Rudolf Herrnstadt am 14. Juni im Zentralorgan »Neues Deutschland« die Holzhammermethoden bei der Durchsetzung der Normerhöhungen kritisiert hatte, sorgte Ulbricht dafür, dass die in allen Betrieben des Landes ausliegende Gewerkschaftszeitung »Tribüne« die Normerhöhungen am Morgen des 16. Juni bekräftigte. Der Generalsekretär wusste: es ging bei dem anstehenden Wechsel um seinen Kopf.
Es lag zutage: Würde eine Protestwelle die staatliche Autorität aus den Angeln heben, so würde die Sowjetarmee militärisch einschreiten müssen; damit wäre Berijas europäischer Friedensplan erledigt gewesen. Genau dies geschah, als die Erhebung sich am 17. Juni nicht nur gegen die im letzten Moment zurückgenommenen Lohnminderungen richtete, sondern rückwirkend gegen eine elf Monate lang durchgepeitschte Repressionspolitik und dabei vielerorts in Vandalismus und Brandstiftung überging. Die Massen, die gegen ein System demonstrierten, das gerade den Rückzug angetreten hatte, agierten unwissentlich im Sinne derer, die sie loswerden wollten.
Berija, aufs höchste beunruhigt, entsandte seine beiden Stellvertreter, Sergej Goglidse, den Chef des Gulag, und Bogdan Kobulow nach Berlin-Karlshorst, um Semjonow für den Ausbruch der Unruhen zur Verantwortung zu ziehen. Aber seine Abgesandten kamen zu spät. Inzwischen hatte im Kreml eine Präsidiumssitzung stattgefunden, in deren Vorfeld es Chruschtschow gelungen war, die Mehrheit der Mitglieder auf seine Seite zu ziehen. Berija wurde am 26. Juni abgesetzt; der schon am 17. Juni in Berlin eingetroffene Generalstabschef Sokolowski konnte die beiden Abgesandten des Innenministers unschädlich zu machen. Semjonow, der um sein Leben gefürchtet hatte, bestellte sie in sein Amtszimmer, wo der Marschall sie festnahm; als Gefangene flogen sie in dem Flugzeug mit, das ihn nach Moskau zurückbrachte.
Zu diesem Zeitpunkt war Berija mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben; vieles spricht dafür, dass er unmittelbar nach der entscheidenden Sitzung, zu der auch Marschall Shukow im Kreml erschienen war, in einem Nebenzimmer erschossen wurde. In dem Prozess, den man ihm im Dezember 1953 mit einigen seiner Mitarbeiter machte, vertrat ihn vermutlich ein Doppelgänger; seine Untergebenen Goglidse und Kobulow wurden realiter hingerichtet. Churchill, den Berija über den früheren sowjetischen Botschafter Maiski kontaktiert hatte, reagierte auf die Nachricht vom Sturz des Mannes, mit dem er Hoffnungen auf eine europäische Friedensordnung verbunden hatte, mit einem Schlaganfall.
Dass durch den Aufstand, dessen Datum der Bundestag auf Antrag von Herbert Wehner (SPD) bald darauf zum Nationalen Feiertag erklärte, nicht nur die SED-Herrschaft über die DDR, sondern auch Walter Ulbricht als deren Gewährsmann für eine historische Frist gesichert worden war, wurde deutlich, als die Moskauer Führung dem Generalsekretär am 30. Juni zu seinem 60. Geburtstag ein Glückwunschtelegramm schickte; er bekam freie Hand, seine politischen Opponenten aus der Partei auszuschließen. Mit Grotewohl trat er Anfang Juli erneut die Reise nach Moskau an, als Gast des Zentralkomitees, vor dem Malenkow, Chruschtschow und Molotow Berijas Absetzung bekannt gaben und begründeten, nicht zuletzt mit Berijas Absicht, »auf den Sozialismus in der DDR überhaupt zu verzichten und Kurs auf ein bürgerliches Deutschland zu nehmen«. (Malenkow)
Krenz lässt in seinem in diesem Jahr erschienen ersten Band seiner Autobiografie »Aufbruch und Aufstieg« (Edition Ost) durchblicken, warum Honecker seinem Politbüro im Frühjahr 1989 die Mär vom Aufstandsverursacher Berija auftischte; er wollte seinen Genossen nahelegen, in Gorbatschow dessen deutschlandpolitischen Wiedergänger zu sehen. Nur Stalin wäre stark genug gewesen, für Deutschland das, was 1954 die österreichische Lösung wurde, also strikte außenpolitische Neutralität bei bürgerlich-demokratischen Innenverhältnissen, gegenüber seinen Generälen durchzusetzen; Berija war, wie sich zeigte, politisch zu schwach dazu. Dass es Gorbatschow mit einem wesentlichen Zugeständnis, der Zustimmung zur Eingliederung der DDR unter eingrenzenden Bedingungen in die Nato, gelang, hatte die Niederlage der Sowjetarmee in Afghanistan zur Voraussetzung, vor allem aber die Tatsache, dass der große Krieg nicht mehr, wie 1953, acht Jahre, sondern inzwischen 45 Jahre zurücklag und die Bundesrepublik unter Helmut Kohl sich die Losung der deutsch-sowjetischen Freundschaft zu eigen gemacht hatte.
Die Demonstranten vom Oktober 1989 hatten aus dem Scheitern des 17. Juni etwas Entscheidendes gelernt – die Losung: »Keine Gewalt!« Auch Egon Krenz trug an seiner Stelle dazu bei, dass sich die Staatsmacht von ihr entwaffnen ließ.
Zum Thema erschien von Dr. h.c. Friedrich Dieckmann (Jg. 1937), Schriftsteller und Publizist, 2009 ein Buch mit dem Titel »Deutsche Daten oder Der lange Weg zum Frieden«.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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