»Ich klage an …«

Der Arbeiter als Sklave und Ware: Das Erstlingswerk von Friedrich Engels jetzt in der Marx-Engels-Gesamtausgabe

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 7 Min.
Zuerst ist man sprachlos: »Eisenwalzwerk«, Gemälde von Adolph Menzel
Zuerst ist man sprachlos: »Eisenwalzwerk«, Gemälde von Adolph Menzel

Wer ein einigermaßen gehaltvolles Buch liest, gewinnt meist nur einen flüchtigen Eindruck von dem, was da vermittelt wird; es geht unter den Anforderungen des Alltags schnell verloren, wird blass und – vergessen. Gotthold Ephraim Lessing wusste dem abzuhelfen: »Wiederholung ist die Mutter aller Weisheit.« Erst beim zweiten Lesen erschließt sich der gedankliche und vielleicht auch ästhetische Reichtum der Lektüre.

»Die Lage der arbeitenden Klasse in England« ist ein weithin bekanntes Werk. Das Debüt des angehenden Kaufmanns der Garnfirma Ermen & Engels erschien 1845 und ließ den 24 Jahre jungen Friedrich Engels schlagartig zu einem geachteten Autor werden. Als »das kommunistische Evangelium der Tatsachen, worauf sich alle Sozialtheorien berufen können«, würdigte damals der bürgerliche Staatswissenschaftler Bruno Hildebrand den Band. Und selbst die preußische Zensurbehörde schätzte das Werk als »das beste …, welches bis heute in deutscher Sprache über die Lage der arbeitenden Klasse in England erschienen ist«. Es wurde in Deutschland vielfach besprochen, in Auszügen nachgedruckt; bald erfolgte eine zweite Auflage sowie eine amerikanische und englische Übersetzung.

Die erste gründliche und umfassende Schilderung der gesellschaftlichen Verhältnisse unter den Insignien der Industriellen Revolution kann nun in der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) aufs Neue erschlossen werden. Als zweites Hauptwerk ist die »Heilige Familie« aufgenommen, worin sich Marx, sekundiert von Engels, mit dem Junghegelianer Bruno Bauer und seinen Anhängern auseinandersetzt. Des Weiteren kommen zahlreiche publizistische Arbeiten zum Abdruck und ein 44-seitiges, weitgehend unbekanntes Manuskriptfragment von Marx, in dem Friedrich Lists Theorie der produktiven Kräfte einer grundlegenden Kritik unterzogen wird. Ein Vergleich dieser Schriften zeigt, nebenbei bemerkt, dass Marx und Engels jeweils eigene und durchaus unterschiedliche Wege zu ihrer materialistischen Gesellschafts- und Geschichtsauffassung gefunden haben.

Was sagt »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« uns heutzutage? Zunächst verschlägt es einem die Sprache, wenn man darüber nachdenkt, wie intensiv Engels die Lebensbedingungen der ärmsten Gesellschaftsschichten »nach eigner Anschauung« wahrgenommen, ja, studiert hat. Er schaut sich in den stinkenden Hinterhöfen der Cottage-Viertel um, wo es keine Toiletten gibt, steigt in die Kellerwohnungen hinab; Hunger, Suff, Prostitution, Epidemien bestimmen den Alltag der Gelegenheitsjobber und der »Überflüssigen«. Teils mitfühlend, teils abgestoßen, aber immer verständnisvoll legt er die Ursachen frei: »Der Arbeiter ist rechtlich und faktisch Sklave der besitzenden Klasse, der Bourgeoisie, so sehr Sklave, daß er wie eine Ware verkauft wird, wie eine Ware im Preis steigt oder fällt.«

Es ist eine Gesellschaftsanalyse in aller Breite. Schon zwei Wochen nach seiner Ankunft in Manchester Ende November 1842 schreibt er drei Artikel für die »Rheinische Zeitung«. Bereits in diesen Texten ist von der »herrschenden Klasse« und der »Arbeiterklasse« die Rede, »die nachher nicht wieder abzuschaffen ist, weil sie nie stabilen Besitz erwerben kann«. Und im Dezember verfasst er eine Korrespondenz unter dem später beibehaltenen Titel »Lage der arbeitenden Klasse in England«. Darin auch die heutzutage allgegenwärtige Einschätzung, dass deren Lage »prekär« ist, selbst wenn es den Lohnabhängigen zeitweise gut zu gehen scheint.

Engels setzt sich also nicht unvorbereitet an sein Erstlingswerk. Nun aber bringt er die objektiven wie subjektiven Faktoren der englischen Misere entschieden auf den Begriff. Er führt die im Deutschen unüblichen Begriffe »Proletarier« (englisch »working man«) und »Proletariat« in seine Texte ein, die seit der »Lage« zu den Topoi der kommunistischen Sozialwissenschaft gehören. Später ist der Begriff zur Fetischfloskel geworden. Ein Proletariat im alten, mehr oder weniger homogenen Sinn gibt es nicht mehr. Die Entfaltung des Dienstleistungssektors, Outsourcing, Digitalisierung, Aufstiegsmöglichkeiten haben zu einer Aufsplitterung der lohnabhängigen Klasse geführt. Aber Ansätze einer Differenzierung finden sich schon in der »Lage der arbeitenden Klasse in England«, wenn er von »verschiedenen Sektionen des Proletariats« spricht, die sich entsprechend ihrer Herkunft, Qualifikation, Bewusstheit unterscheiden.

Damit sind wir mitten in der Diskussion um die Angemessenheit des Klassenbegriffs, die seit mindestens einem Jahrzehnt linke Theoretiker und Praktiker umtreibt. Von »Klassen« hatte schon Adam Smith gesprochen. Doch bei ihm bezeichnet der Terminus einen allgemeinen, indifferenten »Stand«. Es ist Engels, der den Begriff auf die sozioökonomischen Gegebenheiten des »Industriestaats« (auch ein neues Wort) bezogen hat, und er betont, dass es sich dabei um eine »neu entstehende Klasse« handelt, die des Industrieproletariats.

Zweifellos haben sich die Lebensbedingungen seit dem Manchester-Kapitalismus auch für das unterste Drittel der Bevölkerung gebessert. Engels hat damals noch nicht bedacht, dass die Besitzenden zu Kompromissen bereit sind, bereit sein müssen, um ihre Dominanz zu behalten. Die opferreichen Kämpfe um höhere Löhne, demokratische Rechte, menschenwürdige Wohnbedingungen usw. haben mehr oder weniger »bürgerliche« Standards ermöglicht, sodass sich die sozialen Lager nur noch selten (zum Beispiel in Streiks um »gute Arbeit«) ausdrücklich gegenüberstehen.

Theodor W. Adorno vermutete daraufhin, dass sich die Klassengegensätze mehr in den privaten Bereich verlagern und in scheinbaren Randkonflikten, irrationalen Ausbrüchen, Ausgrenzung von Minderheiten manifestieren. Dass auf dieser Basis entstehende soziale Bewegungen meist wieder herrschaftspolitisch eingehegt werden, nimmt er nicht in den Blick. Für Louis Althusser explodiert der Klassenantagonismus nicht »in reiner Form« am Grundwiderspruch zwischen Arbeit und Kapital, sondern in einer Vielzahl ungleichzeitiger »Umstände«, durch eine Anhäufung und Zuspitzung von Widersprüchen verschiedener Art; die Lage wird unerträglich, weil alle psychischen Phänomene durch äußere soziale Faktoren bestimmt (»überdeterminiert«) werden.

Beide Interpretationen haben ihren Charme, aber sie erklären nicht, warum das so ist (wie Alex Demirović dargelegt hat). Alle diese Identitätskämpfe brechen überhaupt erst auf unter gegebenen Herrschaftsverhältnissen. Und wenn wir uns in die »Lage der arbeitenden Klasse in England« neuerlich vertiefen, kann man sich einer bitteren Erkenntnis nicht verschließen: Obwohl wir unser Leben unter erträglicheren Bedingungen gestalten können und müssen, haben sich weder die grundwüchsigen Strukturen der Gesellschaft noch die Mechanismen ihrer Reproduktion geändert. Die Spaltung der Gesellschaft in antagonistische Klassen ist nach wie vor die beste Erklärung für die Vermögensspirale: zunehmender Reichtum oben, Niedriglohnsektor unten, und für die Misere des modernen kapitalistischen Staates. In diesem Sinn ist Engels’ Frühwerk von anhaltender Aktualität.

Ob die »Lage« die »Gründungsschrift des wissenschaftlichen Sozialismus« ist, wie spätere Apologeten, sich auf Franz Mehring berufend, kolportierten, sei dahingestellt. Engels war da bescheidener. Gegenüber den englischen Arbeitern bezeichnet er sein Werk als »Versuch« …, meinen deutschen Landsleuten ein treues Bild eurer Lebensbedingungen, eurer Leiden und Kämpfe, eurer Hoffnungen und Perspektiven zu zeichnen». Und an Marx schreibt er: «Übrigens versteht es sich, daß ich den Sack schlage und den Esel meine, nämlich die deutsche Bourgeoisie».

Die Hauptursache für die Schwäche des Widerstands gegen Ausbeutung und Unterdrückung sieht Engels in der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Sie ist zugleich «die schärfste Waffe gegen das Proletariat in den Händen der Bourgeoisie», denn «der soziale Krieg, der Krieg Aller gegen Alle», demoralisiert die Menschen. Ein beschämendes Beispiel rücksichtsloser Bevorteilung gaben die Gewerkschafter der Kaliwerke Salzgitter, als sie nach 1990 gegen die Kumpel im Osten stimmten und daraufhin die Grube Bischofferode geschlossen wurde. Arbeitslosigkeit ist (nicht nur, aber auch) eine Folge der Konkurrenz der Lohnabhängigen untereinander.

Unter diesem Stichwort widmet Engels der irischen Migration ein eigenes Kapitel. Es versteht sich, dass er die Eingewanderten umstandslos zur Klasse des nationalen Proletariats zählt. Ob es Ausgrenzungsbestrebungen auf Grund der Herkunft gegeben hat, thematisiert er nicht. Zwar mit wenig schmeichelhaften Stereotypen vom «unzivilisierten» Irländer bedacht – die Reise mit seiner Geliebten Mary Burns steht ihm noch bevor – sieht Engels in der Migration einerseits einen günstigen Einfluss, weil die Eingewanderten durch ihr Temperament und ihre Protestbereitschaft etwas Feuer in den Kampf um Gleichberechtigung bringen. Andererseits spricht er deutlich aus, dass die Immigranten (mehr als eine Million Iren) gegenüber den englischen Arbeitern Konkurrenten sind. Sie schnappen ihnen Arbeitsplätze weg und senken die Löhne herab. Das entspricht einfach den Gegebenheiten. Deswegen ist es völlig unverständlich, wenn einer linken Politikerin, die auf diese Konkurrenzsituation aufmerksam macht, Fremdenfeindlichkeit oder gar Rassismus vorgeworfen wird.

Es bleibt nur ein Weg, die Unverträglichkeiten der Verhältnisse zu überwinden, so schwierig es ist: Das Bewusstsein der Solidarität unter Lohnabhängigen zu fördern und den Grad der Organisation zu erhöhen. Chancen und Irrwege der Emanzipation legt Engels in seinen letzten Kapiteln dar.

Karl Marx/ Friedrich Engels: Werke, Artikel, Entwürfe. Ende August 1844 bis April 1846. Bearbeitet von Regina Roth und Christine Weckwerth. Band I/4 der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Verlag De Gruyther, 1640 S., geb., 189,95 €

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