Wenn Hundertjährige vor Gericht stehen

Eine Rückschau auf die letzten NS-Prozesse

  • Ulrich Schneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Warum finden in Deutschland immer noch NS-Prozesse statt? Nur wenige Leser werden sich noch daran erinnern, wie intensiv der politische Streit in der ehemaligen BRD darüber geführt wurde, dass NS-Täter jeglicher Strafverfolgung entkommen würden, indem die Verjährungsfrist für Mord (damals 20 Jahre) auch für die von ihnen begangenen Massenverbrechen gelten sollte. Angesichts der Untätigkeit der BRD-Justiz in den 1950er Jahren bestand die Gefahr, dass es keine juristische Aufarbeitung oder Verurteilung der Täter geben würde. Einer breiten gesellschaftlichen Debatte, ausgehend von den Erfahrungen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, bei der die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und andere Überlebenden-Verbände eine wichtige Rolle spielten, gelang es, zuerst die Verjährungsfrist zu verlängern und 1979 die Unverjährbarkeit von Mord durchzusetzen. Wie man NS-Mörder dennoch freisprechen konnte, zeigte der Thälmann-Mord-Prozess, wo das Urteil gegen den Angeklagten Otto mit der windigen juristischen Konstruktion, es handele sich nicht um Mord, sondern um Totschlag, aufgehoben wurde.

Wie notwendig die Verlängerung der Strafverfolgung war, macht folgende Zahl deutlich: Von 6500 in Auschwitz tätigen SS-Tätern standen weniger als 50 vor deutschen Gerichten. Zudem war es in der Praxis der NS-Prozesse der 1970er und 1980er Jahre üblich, dass für eine Verurteilung den jeweiligen Angeklagten eine direkte Tatbeteiligung nachgewiesen werden musste, was angesichts der zunehmenden historischen Distanz und dem Ausscheiden der Zeugen aus der Überlebenden-Generation enorm erschwert war.

Einen Einschnitt in dieser juristischen Praxis bildete der Prozess gegen John Demjanjuk im Jahre 2011. Der einstige NS-Befehlsempfänger war im Alter von 91 Jahren in München wegen Beihilfe zu Mord in mehr als 28 000 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Demjanjuk sei als Wachmann Teil der Nazi-Vernichtungspolitik gewesen. Damit wurde juristisch geklärt, dass die Bewachung von Häftlingen in einem Konzentrationslager oder einem Kriegsgefangenenlager eine Anklage wegen Mord-Beihilfe möglich macht.

Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg hatten daraufhin Unterlagen für mehr als 30 Fälle zusammengetragen, die an die jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften zur Anklageerhebung weitergegeben wurden. Der bekannteste Prozess betraf den »Buchhalter von Auschwitz« Oskar Gröning, dessen Fall noch 2005 als »abgeschlossen« galt. Nach dem Urteil gegen Demjanjuk wurde tatsächlich Anklage gegen Gröning erhoben. Der damals 94-Jährige wurde 2015 wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Bevor er die Haft antreten konnte, starb Gröning.

Das Landgericht Hamburg hatte am 23. Juli 2020 den 93-jährigen ehemaligen SS-Wachmann Bruno D. zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Ihm wurde Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen im KZ Stutthof vorgeworfen. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass der 93-Jährige in den Jahren 1944 und 1945 mehrere Monate als Jugendlicher zur Wachmannschaft des KZ Stutthof gehört hatte. Relevant für das scheinbar niedrige Urteil war, dass der Prozess nach Jugendstrafrecht stattfand, weil der Mann zu Beginn der Tatzeit im Jahr 1944 erst 17 Jahre alt war.

Vor dem Landgericht in Neuruppin wurde 2021 ein früherer Wachmann des KZ Sachsenhausen wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 3500 Fällen verurteilt. Im Oktober 2021 begann dort ein weiterer Prozess gegen einen mutmaßlichen NS-Täter. Dem hundertjährigen ehemaligen Wachmann des KZ Sachsenhausen wird Beihilfe zum Mord in 3518 Fällen vorgeworfen.

Insgesamt sind noch 14 Ermittlungsverfahren wegen Verbrechen in Konzentrationslagern offen, darunter drei Verfahren zu Buchenwald bei der Staatsanwaltschaft Erfurt und acht zu Sachsenhausen bei der Anklagebehörde in Neuruppin. Zudem sind zwei Verfahren zum KZ Mauthausen in München und Berlin anhängig. Zu diesen Verfahren gehört auch die Anklage der Staatsanwaltschaft Itzehoe gegen die ehemalige Schreibkraft im KZ Stutthof.

Was aber bringt es, Anklage gegen 100-Jährige zu erheben? Es ist nicht allein der Rechtsgrundsatz, dass Mord nicht verjährt. Es ist auch eine späte – meist jedoch viel zu späte – juristische Aufklärung der NS-Verbrechen. Skandalös ist dabei, dass die Angeklagten ihr bisheriges Leben zumeist in Freiheit verbringen konnten. Teilweise haben sie sogar als Entlastungszeugen ihre Mittäter in früheren Prozessen geschützt. Zum anderen ist es eine Tortur für die oftmals über 90-jährigen Opfer des NS-Regimes, wenn sie sich den Strapazen einer Zeugenaussage aussetzen müssen. Natürlich ist es wichtig, die letzten noch lebenden Zeugen der Verbrechen zu hören. Doch wenn sie noch einmal – und möglichst detailliert – über das Erlittene berichten sollen, ist damit eine erneute Traumatisierung verbunden, die eine erhebliche persönliche Belastung darstellt. Verantwortlich für diese Skandale ist der Umgang der bundesdeutschen Justiz mit den Naziverbrechen. Daran ändern auch die jetzt noch laufenden NS-Prozesse nichts mehr.

Dr. Ulrich Schneider, Jg. 1954, Historiker, ist Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR), Bundessprecher der VVN-BdA und Autor zahlreicher historischer Bücher.

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