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  • Psychoanalyse und Patriarchat

Verdrängungsleistungen

Sabina Spielrein war Mitbegründerin der Kinderpsychologie. Aber ihr Beitrag zur Psychoanalyse blieb unterbelichtet, wie üblich im Patriarchat.

Sabina Spielrein auf einer der wenigen Fotografien, die von ihr erhalten sind, angefertigt im Jahr 1930
Sabina Spielrein auf einer der wenigen Fotografien, die von ihr erhalten sind, angefertigt im Jahr 1930

Freuds Schüler sind wie seine Kinder, die er nach seinem Willen gestaltet.« Dies schrieb die Psychoanalytikerin Sabina Spielrein über den Wiener Arzt, der allgemein als Begründer der Psychoanalyse angesehen wird. Ob Freud einen solchen Herrschaftsanspruch auch auf das Verhältnis von Therapeut und Patientin anlegte, sei einmal dahingestellt; jedenfalls kommen viele der ersten weiblichen Analytikerinnen mit der »Redekur«, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrem frühesten Entwicklungsstadium steht, zuerst als Patientinnen in Kontakt. So auch im Jahr 1924 Sabina Spielrein, geboren 1885 als Elisheva Naftulovna Spielrein in Rostow am Don; ihre Diagnose: »Hysterie«, ein mittlerweile als misogyn diskreditiertes Konzept. Nach offizieller Genesung und anschließendem Medizinstudium wird Spielrein selbst Psychoanalytikerin und damit faktisch Mitbegründerin der entstehenden Disziplin. Wie so oft im Fall von weiblichen Personen wird ihr diese Rolle allerdings nicht zuerkannt, nicht einmal der Erhalt ihrer Schriften wurde bewusst gewährleistet. Wäre nicht 1977 zufällig ein Koffer mit Aufzeichnungen Spielreins im Keller des Genfer Institutes für Psychologie gefunden worden, könnte die Ärztin heute vollständig vergessen sein.

Nicht mehr als eine Fußnote

Fakt ist jedenfalls: Sigmund Freud verwendete beispielsweise das von Spielrein entwickelte Konzept des Todestriebs, erwähnt sie aber lediglich in einer einzigen Fußnote. Auch Freuds Kollege – und Kumpel in der Männerbündelei, wie die Korrespondenz der beiden Analytiker beweist – Carl Gustav Jung hebt »in seiner Studie ›Über die Psychologie der Dementia praecox‹ zwar die ›genialen Konzeptionen Freuds‹ hervor, nicht aber den Anteil Sabina Spielreins an seinen Erkenntnissen – obgleich sie in ihrer Dissertation einigen seiner Gedanken zuvorgekommen war.« So zu lesen im Eintrag zu Spielrein auf der Webseite Fembio, in dem unmittelbar auf die nächste patriarchale Unverschämtheit eingegangen wird: »Herablassend nennt Jung sie in seinen Briefen oft ›die Kleine‹. Gleichzeitig befürchtet er, Sabina könnte ihre Beziehung öffentlich machen und damit seiner Karriere schaden. Schließlich beendet er die Beziehung.« Hier ist erklärend hinzuzufügen: Jung war Spielreins Analytiker, und der wesentlich ältere und verheiratete Mann begann während der Therapie ein romantisches Verhältnis mit seiner knapp volljährigen Patientin. Über dessen genauen Charakter wird seitdem gerätselt – um genau zu sein, erschöpfte sich die ohnehin schmale existierende Auseinandersetzung mit Spielrein lange in der sexistischen Fixierung auf sie als »Frau zwischen Jung und Freud«. Diese Erzählung negiert die Analytikerin qua Objektivierung, wie es jeder Sexismus tut, als reale Person und soll hier nicht reproduziert werden.

Familie als Gewaltort

Deshalb zurück zu Sabina Spielreins Werk. Die studierte Medizinerin veröffentlichte dutzende Artikel in den Bereichen Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie, Psycholinguistik und Pädagogische Psychologie. Besonders bedeutend für die Begründung der Psychoanalyse ist ihr Aufsatz »Zerstörung als Ursache der Entstehung«, den sie 1912 in Berlin verfasste. Auch mit der Durchführung einer der ersten Fallstudien über Schizophrenie sowie der Publikation ihrer Dissertation in einer psychoanalytischen Zeitschrift leistete Spielrein originäre Beiträge zur Entwicklung der Disziplin; weiterhin war sie das zweite weibliche Mitglied in der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft. 1920 sprach sie als eine der ersten weiblichen Analytikerinnen auf dem Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Den Haag, wo sie auch ihre Theorien über Kindesentwicklung vorstellte und damit die Fachrichtung der Kinderpsychologie begründete. 

Dass Spielreins fachliches Interesse auf Kinder und Kindheit fokussiert, mag für eine weiblich sozialisierte Person der Jahrhundertwende, die selbst in der Mutterrolle steckte, nahegelegen haben; noch heute ist etwa die Gynäkologie einer der medizinischen Bereiche mit besonders hohem Frauenanteil. Ebenso plausibel ist es allerdings, dass Spielreins eigene Kindheitserfahrungen einen Anteil an dieser Spezialisierung haben. Ihre Familiengeschichte war ausgesprochen finster, beinhaltete Erfahrungen, die heute als traumatisch bezeichnet würden. Ihre großbürgerlichen Eltern waren autoritär, fordernd und verprügelten ihre Kinder regelmäßig; als Spielrein 16 Jahre alt war, starb ihre jüngere und einzige Schwester an Typhus. In der Forschungsliteratur steht immer wieder auch die Möglichkeit sexuellen Missbrauchs im Raum – ein Thema, dessen (gelinde gesagt) Unterbelichtung in der frühen Psychoanalyse unbedingt betont werden muss. 

Es ist eine Grundannahme der Analyse, dass der Entwicklung einer jeden Zwangsneurose, als welche die Hysterie definiert war, eine verdrängte sexuelle »Urszene« zugrunde liege. Diese könne vermittels der Gesprächstherapie ins Bewusstsein gezogen werden, was die Heilung zur Folge hätte. Mit dieser »Urszene« war allerdings niemals sexueller Missbrauch gemeint, sondern sexuelle »Frustration« aufgrund von unerlaubten und deshalb unerfüllten Wünschen. Vielleicht liegt es an der patriarchalen Unterbelichtung, dass die vollständigen Heilungen, über die Freud und Jung in ihren Fallgeschichten – ausschließlich Frauen betreffend, wohlgemerkt – berichten, nach wissenschaftlichen Kenntnissen so nicht erfolgt sind. Jedenfalls lässt sich aus den gegenwärtigen Zahlen extrapolieren, dass viele Frauen, die im frühen 20. Jahrhundert wegen Angstzuständen und anderer psychischer Leiden in Psychiatrien (dem ersten Betätigungsfeld der Psychoanalyse) eingeliefert wurden, traumatisiert waren durch das Erleben sexueller Gewalt. Wie so oft geht die Psychoanalyse übrigens hier nicht vollkommen an der Realität vorbei, denn tatsächlich steht ja in diesen Fällen die Sexualität im Zentrum einer Leidensentwicklung. Deren geschlechtsspezifische Dimensionen können aber durch eine misogyne Brille, wie sie auch Freud und Jung trugen, unmöglich richtig verstanden werden.

Leider prägt die Heteronormativität auch Spielreins eigenes Werk. Die Analytikerin, so wieder auf Fembio zu lesen, »entwickelt eine Theorie, nach der der Sexualtrieb aus zwei gegensätzlichen Komponenten besteht: dem Selbsterhaltungstrieb und dem Arterhaltungstrieb, wobei der Selbsterhaltungstrieb das bestehende Individuum schützen will und der Arterhaltungstrieb gewissermaßen die ›Auferstehung‹ in einem neuen Individuum anstrebt. Das ›Selbst‹ müsse erst zerstört werden, um neues Leben zu schaffen.« In dieser verheerenden Konzeption drückt sich die Selbstaufgabe ab, welche die bürgerliche Gesellschaft den Frauen bis heute abverlangt, zumal in der Rolle der Mutter. Hier vollzieht die Psychoanalyse, in diesem Fall nun einmal formuliert von einer Frau, einmal mehr ein gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis nach, das wirklich besteht – aber sie erfasst es nicht als spezifisch bürgerliches Phänomen, das abgeschafft werden kann und sollte, sondern verewigt es zur anthropologischen Konstante.

Doppelte Auslöschungen

Letztlich war es aber nicht die Mutterrolle, die Sabina Spielrein zugrunde richtete, sondern es waren die Nationalsozialisten. Im August 1942 ermordete das SS-Sonderkommando 10a die jüdische Psychoanalytikerin im Rahmen einer Tötungsaktion in Rostow am Don. Einem typisch perfiden Aufruf zur »Umsiedlung« folgend, wurden die als jüdisch designierten Menschen von den Nazis in eine nahegelegene Schlucht verbracht, erschossen und in einem Massengrab verscharrt, welches sowjetische Kriegsgefangene zuvor hatten ausheben müssen. 

Ziemlich genau ein Jahrzehnt zuvor, im Jahr 1923, war Spielrein in ihr Heimatland zurückgekehrt, das gerade zur Sowjetunion geworden war. Eine kommunistische Positionierung der Analytikerin liegt wohl nicht vor, aber ihre Rückkehr so kurz nach der Revolution kann durchaus als Beleg dafür genommen werden, dass sie sich vom Sozialismus etwas versprach. Und tatsächlich beteiligten sich die Psychoanalytiker*innen als Berufsgruppe zunächst engagiert am gesellschaftlichen Aufbau: etwa durch die Zusammenführung von Marxismus und Psychoanalyse, psychoanalytische Religionskritik, die Beforschung von sozialen Einflüssen auf die kindliche Entwicklung oder ein Kinderheim-Laboratorium, auf das sich ein halbes Jahrhundert später die antiautoritären Gründer*innen der Kinderläden in der BRD beziehen würden. 

Spielrein selbst trat zunächst eine Stelle bei der Russischen Psychologischen Vereinigung an und wurde später Mitarbeiterin in der Kinderpsychologie an der Ersten Moskauer Universität und am Staatlichen Psychoanalytischen Institut. Als die Stalinisierung sämtlichen progressiven Entwicklungen ein brutales Ende setzte, traf dies auch die Psychoanalyse; nach sukzessiven Einschränkungen der Behandlungsmöglichkeiten wird die Russische Psychoanalytische Vereinigung 1930 schließlich verboten. Von nun an arbeitete Spielrein als Ärztin in der Kinder- und Jugendmedizin und veröffentlichte psychoanalytische Aufsätze im Ausland – bis die Wehrmacht im Zuge des Überfalls auf die Sowjetunion auch Rostow am Don besetzte und die 25 000 dort lebenden Jüdinnen und Juden ermordete. 

Im Jahr 2022 jährte sich Sabina Spielreins Tod zum 80. Mal, und bevor es ganz vorbeigegangen ist, sei doch noch einmal an sie erinnert: um ihrer selbst willen, als Mitbegründerin der Psychoanalyse und Opfer der Shoah – aber eben auch stellvertretend für all die anderen vergessenen Psychoanalytikerinnen, deren Werk in der patriarchal geführten psychoanalytischen Familie durchaus noch heute der Erinnerung bedarf.

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