Klinische Diskriminierung

Dem Institut für Sexualmedizin an der Charité wird Transfeindlichkeit vorgeworfen

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 6 Min.
Allein die Hochschulambulanz der Charité begleitet derzeit 51 Menschen bei ihrer Transition, noch mehr stehen auf der Warteliste.
Allein die Hochschulambulanz der Charité begleitet derzeit 51 Menschen bei ihrer Transition, noch mehr stehen auf der Warteliste.

Vor einem Dreivierteljahr hatte Luise* einen Termin in der Hochschulambulanz für Sexualmedizin der Berliner Charité, der sie noch Monate später beschäftigen sollte. Luise ist trans. Sie steht am Anfang ihrer Hormontherapie, hat aber schon mehrere Jahre Begleittherapie hinter sich. An der Charité sucht sie weitere professionelle Begleitung für ihre Geschlechtsangleichung, die Transition. »Meine Hoffnung war, dass man mich auf Dinge lenkt, die ich noch nicht weiß«, sagt sie. Stattdessen sieht sie sich mit Fragen konfrontiert, die ihre Transidentität in Verbindung mit Pädophilie bringen. »Ob ich denn Fantasien mit Kindern hätte«, das habe Klaus Beier, der Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin, sie mehrfach gefragt.

»Das war mir sehr unangenehm«, erzählt die trans Frau ein halbes Jahr später in einem Video der Logopädin und Youtuberin Juliana Franke. Auch sonst habe sie sich in dem Erstgespräch von Beier nicht in ihrer Transidentität respektiert gefühlt. »Als ich meinte, ich nähme schon seit einem Monat Hormone, da merkte man sofort: Das gefällt ihm nicht. Von da an redete er alles nur noch schlecht, was ich gemacht hatte, und sagte, man müsse schauen, ob ich die nicht wieder absetzen müsse. Das kam für mich überhaupt nicht infrage.«

Die Hochschulambulanz begleitet trans Menschen mit Geschlechtsdysphorie, also dem Unwohlsein mit körperlichen Merkmalen, die nicht zur eigenen Geschlechtsidentität passen, im sogenannten Indikationsverfahren. Um ein Indikationsschreiben mit der Diagnose »Transsexualismus« zu erhalten, sehen die Richtlinien der Krankenkassen zwölf Therapiesitzungen vor. Das Schreiben ist zwar nicht zwingend notwendig, um sich Hormone verschreiben zu lassen. Doch spätestens für operative geschlechtsangleichende Eingriffe müssen Psychotherapeut*innen »Transsexualität« feststellen, und auch für nichtoperative Maßnahmen verlangen Krankenkassen für die Kostenübernahme oft ein Indikationsschreiben. Deshalb sind trans Menschen, die körperlich transitionieren wollen, auf Institutionen wie die Hochschulambulanz angewiesen. Und der Bedarf ist offenkundig groß: 51 Personen begleitet das Institut derzeit, 73 weitere stehen auf der Warteliste.

Ein Abfragen von Pädophilie sieht die Richtlinie nicht vor. Trotzdem finden sich neben Luises Erfahrungsbericht drei weitere Schilderungen online, die Klaus Beier vorwerfen, trans Menschen auf Pädophilie »getestet« zu haben. Auch Jenny Wilken von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (DGTI) bestätigt Vorwürfe gegen Beier, insbesondere als Gutachter auf diese Tests zu setzen. Das Amtsgericht Schöneberg, zuständig für Änderungen des Geschlechtseintrags nach dem noch geltenden Transsexuellengesetz (TSG), bestelle für die Begutachtung oft den renommierten Sexualmediziner. »Wir wissen von mehreren Fällen, bei denen Professor Beier sogenannte Pädophilietests vorgenommen hat«, sagt Wilken zu »nd«. Er zeige den zu Begutachtenden etwa Bilder von Kindern und lasse die Erregung auf einer Skala bewerten.

Für Wilken ist das ein absolutes No-Go. »Damit wird man pathologisiert, dabei hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Aber Transsein wird immer noch als Störung gesehen.« Wilkens Verein empfiehlt Menschen im TSG-Verfahren deshalb, andere Gutachter*innen als Beier anzufragen. Auch für die Begleittherapie rät sie von der Charité ab. Hierbei seien ihr zwar noch keine Berichte zu Pädophilietests untergekommen, ein hohes Maß an Pathologisierung erlebten trans Menschen Wilkens Erfahrung nach dort trotzdem.

Mit Blick auf das Gebot der Schweigepflicht Beiers vermittelt die Pressestelle der Charité eine Gesprächsanfrage von »nd« an Hannes Ulrich weiter. Der Psychotherapeut arbeitet ebenfalls am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité. Dass dort im Rahmen eines »begleiteten indikationsbezogenen Reflexionsprozesses« eine Diagnostik von Pädophilie stattfinde, schließt er aus. Aber er und seine Kolleg*innen stellten im Laufe der Begleittherapie sehr wohl Fragen rund um die Sexualität. »Wie möchte ich meine Beziehungen leben? Ist das machbar während und nach einem Transitionsprozess? Das schließt die Auseinandersetzung mit dem individuellen sexuellen Erleben ein und ist in der Regel auch problemlos möglich«, sagt Ulrich zu »nd«.

Gespräche dieser Art hält Ulrich für wichtig, um andere Gründe als Transgeschlechtlichkeit für die Geschlechtsdysphorie auszuschließen. So könnte hinter dem Wunsch nach einer Transition auch der Lösungsversuch anderer Probleme, Krisen oder psychischer Erkrankungen stecken. Ulrich erwähnt das Hadern mit gesellschaftlichen Geschlechterrollen, die Unterdrückung von Homosexualität oder Psychosen als mögliche Ursachen. »Nach unserer Datenlage kann ich sagen, dass bei 90 Prozent der Erwachsenen, die sich als trans definieren, dies auch zutrifft. Aber wir haben eben auch die Verantwortung für die anderen 10 Prozent, für die das nicht zutrifft und die dann sehr dankbar sind.« 

Während die Charité auf die eigene Statistik zurückgreifen kann, werden für ganz Deutschland keine Daten zu Menschen mit Geschlechtsdysphorie und mit der Indikation »trans« erhoben. Lediglich wenn trans Menschen im Zuge des TSG-Verfahrens ihren Namen und Geschlechtseintrag ändern wollen, lässt sich ein prozentuales Verhältnis feststellen: 99 Prozent der Anträge werden vor Gericht angenommen.

Ulrich kann nachvollziehen, dass einige trans Personen den gesamten Indikationsprozess als Hürde empfinden. Sie seien an der Charité dann tatsächlich nicht richtig. Doch seiner Erfahrung nach gebe es auch Menschen mit Geschlechtsdysphorie, die nach intensiver Beratung suchten. Er sagt: »Viele kommen zu uns und sagen: Hormontherapie ist ein großer Schritt. Da möchte ich mir gut überlegen, was es da zu beachten gibt.« Während für die einen zwei Sitzungen ausreichen könnten, machten andere zu den zwölf verpflichtenden Therapiestunden noch zusätzlich eine Gruppentherapie. Ulrich will deshalb die unterschiedlichen Institutionen als komplementär verstehen: »Mit den Kämpfen innerhalb des Hilfesystems ist eigentlich niemandem geholfen, vor allem nicht den Betroffenen.« Viel eher brauche es seiner Ansicht nach eine evidenzbasierte Richtlinie, die die unterschiedlichen Bedürfnisse von Menschen mit Geschlechtsdysphorie berücksichtige.

Eine Änderung der medizinischen Leitlinien fordert auch die DGTI. Zurzeit arbeiten die Krankenkassen noch mit dem veralteten Krankheitskatalog der Weltgesundheitsorganisation ICD-10, der Transidentität als »Transsexualismus« unter der Kategorie »Mentale- und Verhaltensstörungen« aufführt. Der 2019 aktualisierte ICD-11-Katalog erfasst nun Geschlechtsinkongruenz im Abschnitt für sexuelle Gesundheit und suggeriert damit keine Verwandtschaft mit Psychopathologien mehr. Doch diese internationale Definition wurde von den deutschen Krankenkassen noch nicht übernommen.

So lange halten sich Institutionen wie die Charité an die aktuellen Empfehlungen. Ulrich zufolge muss sein Institut allein schon aufgrund seines Status als Teil einer Universitätsklinik Vorgaben besonders genau beachten. Die Youtuberin Juliana Franke hat dafür kein Verständnis. Mit ihrem Video, das neben dem Interview mit Luise noch einen weiteren Erfahrungsbericht aus einer anderen Klinik enthält, will sie auf die systematische Diskriminierung und Gefährdung von trans Menschen aufmerksam machen. Suggestivfragen nach Pädophilie, aber auch andere pathologisierende Unterstellungen durch eine ärztliche Autoritätsperson könnten extrem verunsichern, sagt Franke.

Auch die Wartezeit von mindestens zwölf Monaten bis zur körperlichen Transition und den Druck zur »Alltagserprobung«, also zum Leben im gewünschten Geschlecht vor jeder geschlechtsangleichenden Maßnahme, hält sie für gefährlich – allesamt Empfehlungen aus der Richtlinie der Krankenkassen, die die Charité als Universitätsklinik strenger befolgt als so manche Privatpraxis. Franke sagt: »Du bist sehr angreifbar, wenn du alle Lebenssituationen in den Klamotten des ›angestrebten‹ Geschlechts meistern sollst, ohne Änderung deines Aussehens durch Hormontherapie oder Bartepilation. Besonders für trans Frauen ist das schlimm, die Mann-im-Kleid-Stigmatisierung ist extrem.« Sie erwähnt den Anstieg dokumentierter transfeindlicher Gewalttaten um 66 Prozent von 2020 auf 2021. »Behandelnde machen sich mit ihren stigmatisierenden Methoden mitverantwortlich.«

* Name geändert

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