Wieviel kostet ein Gletscher?

In der Klimapolitik wird die Frage immer wichtiger, wer für die entstehenden Schäden und Verluste zahlt

  • Nick Reimer
  • Lesedauer: 4 Min.

Deutschlands größter Gletscher: Früher dehnte sich die Eisfläche des Schneeferners an der Zugspitze auf über 300 Hektar aus. Doch dann begann der Klimawandel und mit ihm die große Schmelze; der Schneeferner zerbrach in einen nördlichen und einen südlichen Teil. Aber auch das hat keinen Bestand, die Schmelze setzte dem südlichen Schneeferner 2022 derart zu, dass er verschwunden ist. Aufgrund seiner geringen Eisdicke sei hier keine Eisbewegung mehr zu erwarten, teilte die Bayerische Akademie der Wissenschaften mit. Damit ist die Eisfläche nicht länger als Gletscher zu betrachten, statt fünf gibt es somit nun nur noch vier Gletscher in Deutschland.

In der Versicherungswirtschaft werden solche Vorgänge als »loss and damage« bezeichnet, übersetzt »Schäden und Verluste«. Und in der Debatte um die Folgen der Klimaerhitzung spielen Versicherungsfragen zunehmend eine Rolle. Steigende Temperaturen lassen Gletscher schmelzen, die Meeresspiegel ansteigen, weshalb Inseln versinken, tief liegende Äcker versalzen. Es könnte sein, dass Städte wie Alexandria, Basra oder Bangkok umgesiedelt werden müssen. Nach dem Verursacherprinzip stellt sich die Frage: Wer ist schuld an diesen »Schäden und Verlusten«? Wer muss für den verlorenen Gletscher haften?

Perus Hauptstadt Lima liegt mit 13 Millimetern Niederschlag pro Quadratmeter und Jahr in einer der trockensten Gegenden der Welt. Zum Vergleich: In der Sahara beträgt der durchschnittliche Niederschlag 45 Millimeter. Es gibt drei Flüsschen, die das Trinkwasser aus den Anden in die Metropole transportieren, den Rio Chillón im Norden, den Rio Rímac im Zentrum und den Rio Lurin im Süden. Gespeist werden diese Lebensadern Limas von Andengletschern. Aber die sind wegen der steigenden Temperaturen in spätestens zehn Jahren weggetaut.

Stellt sich die Frage: Wie werden die neun Millionen Einwohner Limas dann versorgt? Schließlich haben Peruaner mit einem Pro-Kopf-Ausstoß von 1,3 Tonnen Treibhausgas pro Jahr nichts zum Problem beigetragen. 1,5 Tonnen gelten noch als klimaverträglich, die Deutschen waren 2021 für 11,17 Tonnen pro Jahr und Kopf verantwortlich. Deshalb – so argumentieren die Staaten des globalen Südens – müssen die Verantwortlichen für diese Schäden zahlen, über den Mechanismus »Loss and Damage«.

»Wir können bei diesem Punkt nicht weiter auf der Bremse stehen«, hatte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock beim Treffen der sieben größten Wirtschaftsnationen im Frühjahr 2022 erklärt. Tatsächlich sind die Industriestaaten für 81 Prozent aller weltweiten Treibhausgase verantwortlich. Genau deshalb fürchten sie dieses Thema wie der Teufel das Weihwasser: Zahlen sie einmal für einen abgetauten Gletscher oder eine untergegangene Insel, könnte das juristisch als Schuldeingeständnis aufgefasst werden und einen Präzedenzfall schaffen. Die Pakistani, die ihre Häuser durch die Flut verlieren, die Bauern im Mekong-Delta, deren Äcker im Meer versinken – ab sofort könnte jeder, der durch den Klimawandel etwas verliert, die Industriestaaten zur Kasse bitten. Und tatsächlich laufen bereits einige Musterklagen, bei denen Vertreter des Südens versuchen, Verantwortliche des Nordens zur Rechenschaft zu ziehen.

Wie genau berechnet man aber den Wert etwa des Inselstaates Kiribati im Pazifik, der aus 33 Korallenatollen und Hauptinseln besteht, die nur wenige Meter aus dem Meer ragen? Im August 2022 erschien eine Studie des Geologischen Dienstes Dänemarks und Grönlands (GEUS), die nahe legt, dass der Grönländische Eisschild bereits unwiederbringlich schmilzt. Das ist brisant, denn dieser Eispanzer gilt als eines der Kipp-Elemente im Weltklimasystem, das – einmal angeschoben – nie wieder gestoppt werden kann. In den Spitzen ist der Eispanzer 3300 Meter hoch. Wenn er anfängt zu tauen, fällt die Oberfläche nach unten in immer wärmere Schichten. Selbst wenn wir sofort alle Emissionen weltweit stoppen würden – mindestens 110 000 Kubikkilometer Eis tauen danach trotzdem ab und heben den weltweiten Meeresspiegel um mindestens 27 Zentimeter an.

»Das Neue an der Studie: Die Kollegen haben nicht mit Klimamodellen in die Zukunft geschaut, sondern nachgemessen, was sich in den letzten zehn Jahren auf Grönland abgespielt hat«, sagt Olaf Eisen, Professor für Glaziologie am Alfred-Wegener-Institut in Bemerhaven. Demnach schmilzt der Eispanzer doppelt so schnell wie bislang angenommen. Der Sommer 2012 war besonders warm auf Grönland. Meteorologen gehen davon aus, dass sich dieses Phänomen durch die Klimaerhitzung häufen wird. Die GEUS-Forscher haben daher einen solchen Sommer als Maßstab für die Entwicklung genommen: Bis Ende des Jahrhunderts würden dann zehn Prozent der grönländischen Eisfläche unumkehrbar verloren gehen, der Meeresspiegel um 78 Zentimeter steigen.

Das Grönlandeis ist aber nur ein Grund für den steigenden Meeresspiegel. Mitte des Jahrhunderts werden die Alpen gletscherfrei sein, das geschmolzene Inlandseis wird ähnlich zum Anstieg der Meeresspiegel beitragen. Dazu kommt die Schmelze in der Antarktis: Viele der knapp 120 000 Einwohner Kiribatis werden ihre Heimat verlieren. Und dafür müssen auch wir, die deutschen Verursacher, zahlen.

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