Wie schwach ist das Gute?

Der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen hat »Die Faszination des Bösen« untersucht

  • Thomas Wagner
  • Lesedauer: 4 Min.

Was würde passieren, wenn Jesus Christus auf die Erde zurückkehrte und es hier mit den Verwaltern seines Erbes zu tun bekäme? In einem Kapitel seines Romans »Die Brüder Karamasow« lässt Fjodor M. Dostojewskis diese Begegnung im Spanien des 16. Jahrhunderts stattfinden. Also zu einer Zeit, in der die Kirchenoberen für gewöhnlich noch kurzen Prozess mit all jenen machten, die sich ihren Vorschriften widersetzten. Jesus wird inhaftiert und er muss sich vom Großinquisitor höchstpersönlich erklären lassen, dass seine Anwesenheit nicht erwünscht ist, da sie die einmal gefügte Ordnung bedrohe.

Das Gedankenspiel hat seit jeher einen großen Reiz auf Künstler ausgeübt, denn die Kluft, die sich zwischen froher Botschaft und kirchlicher Realität auftut, ist seit langem unübersehbar. Herrschaft und Anarchie, gut und böse, Herzenswärme und kaltes Machtkalkül, Idealismus und Realismus treffen in ihm unmittelbar aufeinander. Es muss daher nicht verwundern, dass die Geschichte in der Literatur und in der politischen Theorie des 20. Jahrhunderts immer wieder aufgegriffen und auch als Einzeltext gedruckt wurde. Helena Blavatsky, die aus Russland stammende Gründerin der Theosophischen Gesellschaft (einer 1875 in New York gegründeten esoterischen Bewegung), hat einige Monate nach Dostojewskis Tod im Jahr 1881 in ihrer Zeitschrift »The Theosophist« eine englische Übersetzung des Textes veröffentlicht.

Allein in deutscher Sprache erschienen zwischen 1914 und 1964 dreißig Ausgaben. Und das obwohl – vielleicht aber auch weil – bisweilen unklar ist, ob es die Vertreter der Herrschaft oder die der Anarchie sind, die als Statthalter des Bösen fungieren. In vielen Interpretationen, so verdeutlicht Helmut Lethen in seinem anregenden Essay »Der Sommer des Großinquisitors«, komme Christus als ein verweichlichter Idealist daher, während seinem Antipoden der »Scharfsinn eines Realpolitikers« attestiert werde.

»Die Wirkung des spanischen Kardinals«, schreibt der Literaturwissenschaftler, »beruht auf einem einzigen, aber entscheidenden Faktor. Er lehrt, dass nur die Negation der Moral Erfolg verspricht. Darum dreht sich im Nachleben der Legende alles – sie bildete zugleich eine Quelle für die Faszination des Bösen.« Wenn Lethen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die Stationen der Rezeptionsgeschichte abschreitet, ist viel von dieser immer ambivalenten Faszination zu spüren. So wollte der russische Religionsphilosoph Niklolai Berdjajw Lethen zufolge »in der Legende den anarchistischsten und revolutionärsten Text erkennen, der je von Menschenhand geschaffen wurde.«

Wir begegnen in Lethens Essay Gottfried Benn und Ernst Jünger und schauen dabei zu, wie Albert Camus nach einem Streit mit Maurice Merlau-Ponty über den moskaufreundlichen Kurs der Kommunistischen Partei Frankreich eine Redaktionssitzung der Zeitschrift »Les temps Modernes« türenknallend verlässt. Wir lernen den jungen Carl Schmitt als Aufklärer wider Willen kennen, der »mit der Fackel des Begriffs Licht in verdunkelte Zonen des ›Liberalismus‹ trug«, bevor er im Faschismus als »Juraprofessor mit der Angriffslust eines Avantgardisten« sein akademisches Umfeld nach Kräften von jüdischen Wissenschaftlern zu säubern half.

Man kann das Buch als Ganzes, aber auch nur Teile davon lesen und dabei überraschende Entdeckungen machen. Von der Fülle an Literatur, die darin erwähnt wird, sollten sich Neugierige nicht abschrecken lassen. Lethen selbst, so erfahren wir schon auf der ersten Seite, hat noch als Über-80jähriger erhebliche Lücken in der Kenntnis von Texten, die im Zuge jedes geisteswissenschaftlichen Studiums als kanonisch dringend zur Lektüre empfohlen werden. Seitdem der Literaturwissenschaftler im März 2020 – also zu Beginn der Corona-Pandemie – mit seiner Familie zu Verwandten seiner Frau in die Uckermark gezogen ist, hat er einige Lektüren nachgeholt. Er las zum ersten Mal das Alte Testament, alle Bände von Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« und vertiefte sich in die Romane der großen Russen: Bei der Lektüre von »Die Brüder Karamasow« kommt er zum ersten Mal in direkten Kontakt mit der Legende vom Großinquisitor, die er bis dahin nur vom Hörensagen kannte.

Überraschend ist Lethens Einschätzung der klassischen Künstler-Avantgarden. Ihre in linken Kreisen weit verbreitete Deutung als Vorläufer heutiger Emanzipationsbewegungen hält er für falsch. Stattdessen hätte ihre Ästhetik mit humanistischen Anliegen sehr wenig im Sinn gehabt. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe die Avantgardeforschung, so Lethen, die radikalsten Elemente der Avantgarde entschärft, um sie für den neuen bürgerlichen Kanon in Anspruch nehmen zu können. Unter den Tisch gefallen sei dabei die Tatsache, dass die frühen Avantgardisten den bürgerlichen Humanismus verachteten und in ihrer Suche nach intensiven Erfahrungen den Menschen gerade nicht als gut und demokratiefähig begreifen wollten. »Die Avantgardisten«, so sieht es Lethen heute, »hätten ihren Vitalismus besser in dem geschützten Raum der Kunstautonomie einhegen sollen, statt mit ihm in den politischen Raum einzudringen. War die historische Avantgarde eine ästhetische Auswilderung lebensgefährlicher Strömungen?« Dass sich viele Futuristen dem italienischen Faschismus anschlossen, hatte insofern jedenfalls eine gewisse Folgerichtigkeit.

Helmut Lethen: Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen. Rowohlt Berlin, 240 S., geb., 24€.

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