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Mehr Inhalt statt Stil!
Livia Sarai Lergenmüller plädiert für mehr Nuancen, Ambivalenzen und Widersprüche in medialen Debatten
Es war ein Jahr der Krisen. Russland begann einen schonungslosen Angriffskrieg auf die Ukraine, was die Energiepreise hierzulande zum Explodieren brachte, die Inflation stieg auf Rekordhöhe und trieb zahlreiche Menschen in existenzielle Nöte. Die Klimakrise trieb unbeirrt ihr Unwesen und der Tod Jina Aminis unter der Aufsicht der iranischen Sittenpolizei löste landesweite Proteste von enormer Sprengkraft aus.
Und dennoch: die eigentliche Krönung dieses krisengebeutelten Jahres fehlt in dieser Aufzählung. Denn - man mag es kaum aussprechen - Klimaaktivist*innen wagten es, sich Methoden des zivilen Ungehorsams zu bedienen – und klebten sich auf die Straße! Ein handfester Skandal, der unser aller Aufmerksamkeit bedurfte. Schon bald entbrannte eine gesellschaftliche Debatte, die alle anderen Themen überschattete.
Das Niveau dieser befand sich dabei in einer konstanten Abwärtsspirale. Auf »Ist das zielführend?« Und »Richtet sich der Protest gegen die Richtigen?« folgte bald »Darf man Klimaklebern eine kleben? Und sind das nicht schon Terroristen?« woraus in der Praxis schon bald Präventivhaft und Razzien wurden. Was bemerkenswert selten gefragt wurde: Wann handelt die Politik endlich – und machen diese Proteste damit überflüssig. Statt sich inhaltlich mit den Forderungen der »Letzten Generation« zu befassen, wurde ihr Protest formal durchexerziert.
Livia Sarai Lergenmüller schreibt als freie Journalistin über Kultur und Gesellschaft mit einem Schwerpunkt auf geschlechtsspezifische Gewalt.
Ähnlich verhielt es sich mit zwei (alten, weißen, vor allem aber unsympathischen) Männern, die sich in diversen Talkshows über »die Medien« und ihre Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine echauffierten. Keine Frage: Richard David Prechts und Harald Welzers Argumentationen kennzeichneten sich durch Ungenauigkeit, Unwissen und eine selten unangenehme Rhetorik. Dazu mischte sich das Unverständnis dafür, dass ausgerechnet den beiden derart viel Raum in Talkshows geboten wurde.
Dennoch schien letztere Frage die Einzige zu sein, die in der Folge diskutiert wurde. Die Fragen, warum Menschen das Gefühl haben könnten, die Medienlandschaft würde nicht differenziert genug berichten, wurden nicht berührt.
Dabei ist eine Medienbeobachtung essentiell. Sich offen kritisch mit der journalistischen Arbeit hierzulande zu befassen ist wichtig und bedeutet keineswegs, dass man der Verschwörungserzählung eines »gleichgeschalteten Medienapparats« anhängt. Doch auch hier ließ sich eine tatsächliche inhaltliche Auseinandersetzung missen. Precht und Wälzer wurden zum alleinigen Diskussionsgegenstand und, der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie entsprechend, immer wieder in Talkshows eingeladen, um ihre gefühlten Wahrheiten hinausposaunen.
So wurden die medialen Themen des Jahres häufig auf einer stilistischen statt einer inhaltlichen Ebene diskutiert. Es wurden Diskurse um die eigentlichen Diskurse geschaffen und so eine tatsächliche Auseinandersetzung vermieden. Statt über das Verbesserungspotential unserer Medienlandschaft zu diskutieren oder Lehren aus der Corona- oder Ukraine-Berichterstattung zu ziehen, diskutierten wir über Prechts und Wälzers Auftreten in Talkshows. Statt über die Klimapolitik der Ampel zu sprechen, diskutierten wir über Sinn und Unsinn von Klebeprotesten.
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Abwegig ist das nicht, folgt es doch der Funktionsweise sozialer Medien. Schnell entscheidet man sich für eine eindeutige Position (Team Welzer oder Team Medien, Team Letzte Generation oder Team Springerpresse) und vertritt diese fortan vehement. Klar, so ist es gemütlicher, denn ein inhaltlicher Austausch erfordert in der Regel etwas mehr kognitive Anstrengung als ein treffsicherer Tweet. Dafür müsste man gar innehalten und – nachdenken. Und das dauert mitunter länger, als ein Hashtag bei Twitter in den Trends ist.
Dennoch würde es sich lohnen, mehr Zeit in die Inhaltsebene zu investieren. Dann würden wir vielleicht erkennen, dass die meisten Themen aus mehr als zwei konträren Positionen bestehen und Ambivalenzen kein argumentatives Armutszeugnis sind. Im Gegenteil: ein schöner Vorsatz für das kommende Jahr wäre es doch, wieder mehr Debatten zu führen, die Nuancen und Widersprüche zulassen. Und uns so eine konstruktive Auseinandersetzung ermöglichen.
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