- Kultur
- Russland
Ukraine-Krieg? Schuld sind immer die anderen
Nicht erst nach zehn Monaten Angriffskrieg: Russland-Versteher sollten Putin-Kritiker sein
Herzlichkeit, absolute Gastfreundschaft, aber auch Schwermut schwingen im »russischen Charakter« immer mit. Aber keiner der vielen Russen, die ich kenne, fühlt sich ernsthaft gedemütigt, weil irgendwer sein Land als »Regionalmacht mit Atomwaffen« bezeichnet hat. Die eigentliche, oft in Aggressivität umschlagende Verzweiflung wurzelt vielmehr darin, dass das so große und an Rohstoffen so reiche Land nie in der Lage war, für die breite Bevölkerung einen den Potenzen des Landes einigermaßen entsprechenden Lebensstandard zu schaffen. Ein großer Teil des Volkes lebte immer in großer Armut, ja im Elend, während sich die Herrschenden unverschämt bereicherten. So war es unter den Zaren, so blieb es unter den Bolschewiki, so ist es heute. Schon während meines Studiums in Moskau (1969 – 1974) fragten mich sowjetische Kommilitonen, warum denn die Völker ihres Landes, die Sieger des Zweiten Weltkrieges, jetzt so viel schlechter lebten als wir, die »Besiegten«.
Das Grübeln über die Ursachen des Untergangs unseres scheinbar so mächtigen »sozialistischen Weltsystems« bringt mich immer wieder zu den Überlegungen von Marx und Lenin, dass über Erfolg oder Versagen von Gesellschaften letztendlich die Arbeitsproduktivität entscheidet. Die reflexartige Fixierung auf äußere Feinde und »Verräter« im Innern verstellt den Blick auf die innere Verfasstheit eines Staates und war schon immer Methode der Herrschenden, die Unzufriedenheit im Inneren in Hass gegen äußere Feinde zu verwandeln. In Europa glaubten wir, den ewigen Kreislauf von Nationalismus – Chauvinismus – Krieg überwunden zu haben. Doch die Realität sieht anders aus. Heiligabend dauerte der jüngste Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine auf den Tag zehn Monate, und wir hören die gleichen Rechtfertigungen auch für dieses Verbrechen. Der Westen hasse die Russen als Nation (»Russenhass«) und ihren einzig wahren christlichen, nämlich den orthodoxen Glauben. Mit der »militärischen Sonderoperation« sei man einem Angriff, den die Ukraine stellvertretend für die USA und Nato plante, nur zuvorgekommen.
Trotz obligatorischer Verurteilung der russischen Aggression wird doch von einigen das Narrativ vom »Stellvertreterkrieg« bereitwillig aufgegriffen. Ausgeblendet wird dabei die Hauptursache für das Handeln des Kreml – der Kampf um den Erhalt der eigenen Macht mit allen Mitteln. Ausgeblendet wird die Unterwerfung der ehemaligen Völker und Nachbarn des russischen Imperiums durch den von Lenin so bezeichneten »kolonialen Großmachtchauvinismus der Großrussen«. Und schon gar nicht wird die Frage gestellt, ob die Politik des Kreml im gnadenlosen geostrategischen Konkurrenzkampf nicht sogar den Fortbestand der Föderation gefährden könnte.
Zu selten wird auch über die Rolle der Russisch-orthodoxen Kirche, genauer des Moskauer Patriarchats und des Patriarchen Kyrill I. nachgedacht. Der größte Exodus der europäischen Nachkriegsgeschichte, der unsägliche Terror gegen die ukrainische Zivilbevölkerung, die Entführung Tausender Kinder sind Katastrophen geradezu biblischen Ausmaßes. Und der neue Chef der russischen Invasionstruppen, Sergej Surowikin, nennt sich auch noch »General Armageddon«. Seine Kampferfahrungen hat er 1991 beim Putsch gegen Michail Gorbatschow, im zweiten Tschetschenien-Krieg und in Syrien gesammelt.
Edgar Dusdal ist Gemeindepfarrer in Berlin-Karlshorst. Hier wurde am 8. Mai 1945 die Kapitulation Hitler-Deutschlands unterzeichnet. Hier finden zum 8. Mai ökumenische Gottesdienste statt. Dusdal erläutert, dass von 1990 bis 2020 der Anteil der Gläubigen in Russland von 44 auf 78 Prozent gestiegen ist. Der von der Russisch-orthodoxen Kirche aggressiv vertretene Wertekanon führe in die Zeit vor der Aufklärung, ja vor Martin Luther zurück. Der Pfarrer zitiert Kyrill I.: »Die traditionellen Werte des heiligen Russland haben Vorrang vor dem Konzept allgemeingültiger Menschenrechte. Russland befindet sich im Kriegszustand mit dem Westen.« Die ukrainischen Soldaten zählte er zu den »Kräften des Bösen«.
Dusdal beschreibt die umfassende Unterstützung der weltlichen Macht durch die Orthodoxie in der Geschichte Russlands und sagt: »Der russische Imperialismus speiste sich schon immer auch aus den Quellen der Orthodoxie.« So ziehe die russische Führung die Religion zur Rechtfertigung des Anspruchs Russlands auf die orthodoxen Nachbarländer Weißrussland und Ukraine heran. Laut Kyrill kämpfe in der Ukraine das Volk Christi einen heiligen Krieg um die höchsten Werte der Orthodoxie gegen den moralisch verkommenen Westen. Zugleich weist Pfarrer Dusdal darauf hin, dass nicht alle orthodoxen Christen dem Moskauer Patriarchen bedingungslos folgen. Zumindest in Deutschland gebe es russisch-orthodoxe Gemeinden, die ukrainische Flüchtlinge bei ihrer Integration hier unterstützen.
In die gleiche Richtung zielen die Bewertungen Lenins durch den russischen Präsidenten. Er kritisiert nicht etwa die Lehren, deren Umsetzung so viel Unheil angerichtet hat (Diktatur des Proletariats, Partei neuen Typus, Kriegskommunismus etc.). Umso heftiger wird die Definition des zaristischen Russland als nach Großbritannien zweitgrößte imperialistische Kolonialmacht, als ein »Völkergefängnis« attackiert. Nach den ursprünglichen Vorstellungen der Bolschewiki sollte die nationale Frage durch einen freiwilligen Zusammenschluss (Union) freier Republiken mit allen Souveränitätsrechten bis hin zum Recht auf Austritt aus der Union gelöst werden. Obwohl in der Praxis nie umgesetzt, sind selbst diese theoretischen Überlegungen heute dem Kreml ein Dorn im Auge. Er bestreitet das Existenzrecht der jetzt unabhängigen Ukraine und anderer ehemaliger Unionsrepubliken und schreckt sogar vor Krieg nicht zurück.
Viele bezeichnen das Konzept »Wandel durch Handel« als gescheitert. Doch auch in Russland hat es mehr »Wandel durch Handel« gegeben, als dem Kreml heute lieb ist. Beispielsweise bescheidene Ansätze zur Herausbildung einer Zivilgesellschaft, wie sie sich u.a. in nichtstaatlichen Organisationen wie Memorial manifestierten. Die Archive wurden in bis dahin nicht gekannter Weise geöffnet, der Stalin’sche Terror konkreter erforscht. So auch das Schicksal vieler deutscher Antifaschisten, die – der Verfolgung durch Hitler entkommen – von Stalin umgebracht wurden.
Dies betrifft auch meine Familie. Heiligabend 1955 wurde mein Großvater Oswald Schneidratus durch das Oberste Gericht der UdSSR rehabilitiert. Er war im August 1937 in Moskau wegen »konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit« hingerichtet worden. Als Teilnehmer der Novemberrevolution 1918, Stadtverordneter der KPD und Regionalkommandeur ihres geheimen militärischen Apparates war er in Deutschland zur Fahndung ausgeschrieben worden und musste mit der Familie 1924 in die UdSSR fliehen. Auf der »Sonderfahndungsliste UdSSR« der Gestapo von 1941 befand er sich gemeinsam mit meiner Großmutter und meinem Vater, was Liquidierung bei Ergreifung bedeutete. Doch Stalin hatte das bereits 1937 erledigt: Meinen Großvater ließ er hinrichten, Vater, Großmutter und Tante schickte er in Straflager und zur Zwangsarbeit.
Nach 1990 gründeten Betroffene in Berlin den Arbeitskreis »Sowjetexil«. In einer Wanderausstellung, bei Konferenzen und in Publikationen wurden die Schicksale vieler deutscher Antifaschisten und Antifaschistinnen in der Stalin’schen UdSSR dargestellt. Und unser Arbeitskreis schlug vor, am Karl-Liebknecht-Haus in Berlin, dem ehemaligen Sitz des ZK der KPD und der heutigen Bundesgeschäftsstelle der Partei Die Linke, eine Gedenktafel für die in Moskau verfolgten und ermordeten deutschen Antifaschisten anzubringen. Vier Jahre wurde dies verzögert, aber heute gibt es die Tafel. Immerhin. Intensiv kooperierte unser Arbeitskreis auch mit Memorial, jener russischen Organisation, die den Stalin’schen Terror systematisch erforscht. Memorial ist Träger des Friedensnobelpreises, aber in Russland faktisch verboten. Stalin erlebt eine Renaissance.
Konsequent muss man jedoch zwischen »den Russen« und dem Kreml unterscheiden. Echte Russland-Versteher müssten eigentlich Putin-Kritiker sein.
Dr. Oswald Schneidratus, geboren 1951 in Sibirien, in der Verbannung. Vater deutscher Kommunist, Mutter Ukrainerin. 1955 Übersiedlung in die DDR. Studium der Außenpolitik in Moskau, Tätigkeit in der internationalen Jugend- und Friedensbewegung und als Diplomat für die Uno im Zypern-Konflikt, für die DDR in London, bei den Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa, später auch für die OSZE im Transnistrien-Konflikt. Nach der deutschen Vereinigung als Berater der Industrie bei Großprojekten wie der Entsorgung chemischer Kampfstoffe in Russland, der Entsorgung militärischer Altlasten sowie der Konversion von Rüstungsbetrieben in Russland und der Ukraine tätig. Deutsch und Russisch sind seine Muttersprachen. Er hat Verwandte und viele Freunde in Russland wie in der Ukraine.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.