- Kultur
- Lieblingsaberglaube
Hat meine Großmutter das Brot erfunden?
Wer nicht abergläubisch ist, bleibt ratlos: Drei ganz normale Beschwörungen
Glücksbringer und Seuchenvogel
Mit Silvester endet die Zeit zwischen den Jahren, es ist die Zeit der Wunder und des Aberglaubens. Da schlechte Zeiten Aberglauben nähren und die Zeiten vorerst wohl nicht besser werden, werfen wir in unserer Silvesterausgabe einen Blick auf den boomenden Markt für Esoterik und Heilkristalle, untersuchen die Verbindung von Aberglauben zu rechtem Gedankengut und lassen Theodor W. Adorno den Kapitalismus aus Horoskopen erklären.
Alle Texte unter: dasnd.de/aberglaube.
Im Jahr 1967 lief es mal ganz gut für Eintracht Braunschweig: Die Saison endete mit der Deutschen Meisterschaft. Danach war es ein holpriger Weg durch die Ligen. Wenn man diesen Fußballverein unterstütze, brauche man, so sagte man früher mal, eine enorme »Frustrationstoleranz«. Alkohol kann auch partiell hilfreich sein, für eine gewisse gute Geselligkeit im Block und vor allem magisches Denken. Die Fußballromantiker wissen sofort, was ich meine, die Vernünftler, Aufklärer und Schorletrinker sprechen dann von »Kindereien«. Dabei gibt es eine empirische Evidenz, die man nicht so einfach wegeskamotieren kann.
Tills Halbbruder lebt mittlerweile in den Niederlanden, er kommt selten nach Braunschweig, aber wenn, nimmt er meistens ein Heimspiel an der Hamburger Straße mit. Nach dem siebten oder achten Besuch fiel Till auf, dass Eintracht nicht mehr verloren hatte bei Anwesenheit des Bruders im Stadion. Also lässt er ihn jetzt gelegentlich einfliegen, wenn wirklich Not am Mann ist. Letzte Saison zum Beispiel ging es wieder einmal um den Aufstieg in die zweite Liga. Mit einem Sieg gegen Victoria Köln am letzten Spieltag galt es, den zweiten Platz zu sichern und somit nicht in die Relegation zu müssen. Was soll ich sagen: Tills Bruder kam und tat seinen verdammten Job. Eintracht verlor zwar gegen die Kölner, aber vorher hatte auch Kaiserslautern alle drei Punkte liegen lassen, und so wurde es dank ihm ein ungefährdeter Aufstieg »auf dem Sofa«. Q. e. d.!
Das Gegenteil gibt es aber auch: den Seuchenvogel, und der hört bei uns auf den Namen Axel Klingenberg. Seine Kinder nennen ihn Klinge. Axel hat nicht viel Ahnung von Fußball, er mag ihn nicht mal besonders, aber aus einem uns noch verborgenen Grund ist er Eintracht-Fan. Das führt dazu, dass er im Block bei keinem Heimspiel fehlt, aber die Auswärtsspiele in der Stammkneipe gern schwänzt. »Ich bin in Sachen Minne unterwegs«, lässt er uns dann wissen im einschlägigen Chat. Die obligatorisch folgenden Verbalinjurien unsererseits möchte ich nicht zitieren.
So war es damals. Mittlerweile ist es anders herum. Man schimpft, wenn er sein Kommen ankündigt, weil irgendwann ruchbar wurde, dass mit Klinge am Tisch kein Spiel gewonnen werden konnte. Wir dachten zunächst an sein altes Trikot. »Zieh dir was Vernünftiges an, Mann! Merkste selber?!« Aber irgendwann konnten wir die Augen nicht mehr vor der Wahrheit verschließen. Es lag allein an seiner Person. Die Pechmarie, die bei Heimspielen durch das mentale Gegengewicht in der Südkurve nicht weiter ins Gewicht fiel, zeigte im übersichtlichen Kneipenkreis ihre volle Durchschlagskraft. Wir wollten ihn schon des Feldes verweisen, da trennte sich Axel von seiner Freundin und wandelte wieder auf Freiersfüßen. Dass er für die Liebe auf Auswärtsspiele verzichten musste, erwies sich als Segen für unsere angeknackste Freundschaft. Aber jetzt ist er wieder in festen Händen und hat für die Rückrunde häufigere Kneipenbesuche avisiert. Das werden wir zu verhindern wissen! Frank Schäfer
Ich sehe Geister, also bin ich
»Man muss nicht abergläubisch sein, um zu wissen, dass die Gegenstände des Aberglaubens Wahres enthalten«, sagte F*** diesen Sommer in unserem Appartment in Venedig. Wir kamen darauf, weil ich kurz zuvor Schillers »Der Geisterseher« gelesen hatte. »Bei Geistern in der Literatur zum Beispiel fühle ich mich immer gut aufgehoben«, pflichtete ich ihm bei, »sie passen da so gut rein und fallen gar nicht weiter auf. Ich fand den Geist von Hamlets Vater immer einen genialen Einfall. Den hinterfragt keiner, es ist klar: Hamlet nimmt Befehle von einem Gespenst entgegen, es kann sich gar nicht anders zugetragen haben.«
»Vergiss nicht das Gespenst«, meinte er, »von dem Marx sagt, es gehe um in Europa. Also Shakespeare und Marx, die beiden klassischen, rationalen Köpfe, operieren ganz selbstverständlich mit Geistern.«
»Sie haben ja auch Recht: Es spukt ja tatsächlich.« F*** nahm einen Schluck von seinem Wein: »In Europa sowieso, immer noch. Ich denke ohnehin, dass der Glaube, es gebe keine Geister, der wirkliche Aberglaube ist. Und was ist mit dieser seltsamen Angst vor Geistern? Wozu? Wir sollten auf sie hoffen. Sie sind unsere letzte Rettung.«
»Ich fand bei Schillers Geisterseher bezeichnend, dass er der rationalste von allen Beteiligten der Erzählung ist: Geistersehen ist einfach sein Geschäft. Diesen Hochstapler, Cagliostro, den gab es ja wirklich. Nur: Wen es auch wirklich gab, waren die Unzähligen von teils Hochgebildeten, die an den Spuk geglaubt haben. Alle glaubten an die Geister, nur der Geisterseher nicht, der wurde reich, indem er sie erfand. Also wenn es keine Geister gäbe, müsste man sie erfinden. Mich zum Beispiel gäb‹s ohne Geister gar nicht. Ich sehe Geister, also bin ich.«
»Ja«, stimmte F*** mir zu, »der Geisterglaube ist der legitime Aberglaube der Aufklärung. Wir können nicht umhin, von ihrer Existenz auszugehen. Es interessiert uns Menschen nicht, ob die Geister überhaupt wollen, dass es sie gibt.«
»Der größte Aberglaube ist ohnehin zu denken, der Aberglaube bewirke nichts oder sei sinn- beziehungsweise zwecklos, nur weil er unwahr ist. In einer Welt, in der die Mehrheit der Menschen abergläubisch ist, funktioniert der Aberglaube – als Profitgeschäft bei Cagliostro, und heute bei der Homöopathie oder den westlichen Werten. Dieser Aberglaube setzt reale Tatsachen. ›Es soll auch helfen, wenn man nicht dran glaubt‹, sagte der Physiker Niels Bohr einmal über das Hufeisen, das über seiner Tür hing und Glück bringen sollte.«
Wir diskutierten noch eine Weile, und es wird vielleicht einmal die Gelegenheit geben, mehr darüber zu berichten. Unser Gespräch endete erst am frühen Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen schon die Lagune erhellten. Als ich gegen Mittag in der drückenden Hitze aufwachte, war der Geist von F*** verschwunden und nie wieder gesehen. Er hatte seinen Zweck erfüllt. Marlon Grohn
Bei Bauchlage wird’s brenzlig
Als Kind glaubte ich, meine Großmutter habe das Brot erfunden. Niemand außer ihr ging so hochachtungsvoll, so ehrerbietig damit um. Nirgendwo anders sah ich, wie knusprige Krumen zärtlich zusammengefegt und als Verzierung wieder auf die mit Teewurst oder Marmelade bestrichene Scheibe gestreut wurden. In keiner Familie meines Dorfes war das Brotholen ein solches Ehrenamt wie in meiner. Ich riss mich geradezu darum. Meine Großmutter nahm das Backwerk wie eine Königin in Empfang. Sie konnte es in hauchdünne Scheiben schneiden, nicht dicker als Mohnblättchen durften sie sein. Man musste durchschauen können. »Mohblättel« hießen die auf schlesisch, denn meine Großmutter kam aus Schlesien. Niemals durfte das Brot auf dem dicken Bauch liegen wie ein fauler Bäckergeselle, sondern stets auf der flachen Seite. Was für ein frisches Brot einfache physikalische Gründe hatte, erklärte ich mir mit einem mystischen Geheimnis, das mit den Jahren immer mächtiger wurde.
Wehe, wenn ich das Brot achtlos aus dem Einkaufsbeutel fischte und es rücklings auf den Küchentisch schmiss. Und am allerschlimmsten: Wenn es in dieser Lage eine längere Zeit zubringen musste. Meine Großmutter zischte angesichts solchen Fehlverhaltens nur ganz spitz die Luft durch die Zähne und schüttelte leicht den Kopf, während sie den Laib aus seiner misslichen Situation befreite und die Brotaufbewahrungsordnung wieder herstellte. An dieser Stelle wird es brenzlig, hieß dieses Geräusch. Sagen musste sie es gar nicht.
Als sich der Irrtum über die Erfindung des Brotes einige Jahre später durch die unvergleichlichen Bildungserfolge in meiner DDR-Schule aufklärte, war meine enge Beziehung zu diesem Lebensmittel bereits so gefestigt, dass es mittlerweile egal war, ob es die alten Ägypter erfunden hatten oder meine Großmutter. Sicher war, es bedurfte besonderer Beachtung; vor allem besonderer Lagerung.
Ich lernte: Schaukelt ein Brot, und sei es auch nur ein halbes, auf dem Bäuchlein liegend hin und her, zieht das schweres Unheil nach sich. Einen heftigen Hagelschauer beispielsweise, der unsere Balkontür aus den Angeln riss. Eine Beschwerde von der Kindergärtnerin über nicht enden wollende Monologe meinerseits, während alle Kinder schlafen sollten, oder Streit mit Herrn Müller, unserem Nachbarn, weil jemand vergessen hatte, den Kaninchenstall zu schließen, und unsere lieben Tierchen sich durch fremde Gärten fraßen. »Siehst du?«, hieß es dann von meiner Großmutter, während sie bedeutungsvoll Luft durch die Zähne zog.
Seit über sechs Jahrzehnten achte ich nun geradezu panisch darauf, dass mein Brot mit dem Bauch himmelwärts in seinem emaillierten Behälter liegt.
Bis auf das eine Mal vielleicht, als mir meine Handtasche aus dem Auto gestohlen wurde. Ach ja, und an dem Tag, als ich die 400 Euro verlor. Und vor dem Streit mit der Lehrerin meiner Tochter, der uns alle vor ein Gericht führte… vor meinem Treppensturz, der mit dem Gipsverband endete…. und höchstens noch einmal in dem Dezember vor zwei Jahren, als die Weihnachtsgans verbrannte und die Feuerwehr kommen musste. Sonst schaue ich immer in den Brotkasten, bevor ich das Haus verlasse. Silvia Ottow
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.