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Von Süchten und Tiger Prawns
Mal ehrlich, im Leben ist es doch immer gleich: Eine Sucht löst die nächste ab
Es ist 2010. Die Mutter meiner besten Freundin, eine Biochemikerin, ist zu einer Konferenz in Amsterdam eingeladen worden. Es geht um Abwassersysteme. Sie nimmt meine beste Freundin und mich mit in die Stadt, in der wir bis dahin noch nie gewesen sind – und von der wir uns natürlich vor allem eines versprechen: Getting high legally. Wir kiffen schon zu Hause ziemlich viel, aber freuen uns darauf, nun, endlich, das Königreich des legalen Kiffens betreten zu dürfen. Warum die Frage nach der Legalität uns Teenager damals so beeindruckte, ist mir mittlerweile unklar. Denn man sollte doch annehmen, dass wir, 16 oder 17 Jahre alt, eher auf Regelbruch aus waren.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.dasnd.de/hohmann
In Amsterdam sind wir sehr zentral untergebracht, auf einem Hausboot unweit der Prinsengracht. Es gibt eine kleine Terrasse, die ins Wasser ragt. Sie ist perfekt geeignet, um Joints zu rauchen, das stellen wir direkt nach unserer Ankunft fest. Trotz der plötzlichen Legalität dürfen aber die Eltern meiner Freundin nicht erfahren, dass wir kiffen. Meine Mutter verheimlicht ihrer (mittlerweile Ende 80-jährigen) Mutter nach wie vor, dass sie Zigaretten raucht – ich verheimliche ihnen beiden seit meinem 16. Lebensjahr dasselbe. Und natürlich wissen alle Bescheid.
Abgesehen von den ersten Eindrücken des Hausbootes erinnere mich allerdings kaum an die Amsterdam-Reise. Morgens, nach dem Aufwachen, rauchten wir erst mal einen Guten-Morgen-Joint auf der Terrasse und ließen uns dann sanft zurück in den Schlaf schaukeln. Erst abends, wenn die Mutter meiner Freundin von der Abwasser-Konferenz nach Hause kam, standen wir auf und freuten uns, von ihr in ein Restaurant eingeladen zu werden. Wir bestellten die kohlenhydratreichsten Speisen auf der Karte und dachten uns im Gespräch verschiedene Aktivitäten aus, die wir vorgaben den Tag über unternommen zu haben. Vor dem Ins-Bett-Gehen verabschiedeten wir uns zu einem Spaziergang, bei dem wir es nur bis zur nächsten Straßenecke schafften, wo wir noch einen Gute-Nacht-Joint rauchten.
An dem einzigen freien Nachmittag der Mutter skippten wir, ihr zuliebe, unseren Mittagsschlaf und besuchten mit ihr das Rijksmusum. Das Ritual des Guten-Morgen-Joints hatten wir allerdings trotzdem wahrgenommen, und so waren meine Freundin und ich besonders beeindruckt von den Stillleben. Mit roten Augen gingen wir von Gemälde zu Gemälde und verzehrten uns nach den riesigen Schinken, den Austern, den Fasanen, den halbierten Gouda-Laiben und den geräucherten Forellen – nicht mal die Weintrauben hätten wir abgelehnt.
Aus der Gemäldegalerie kommend, rauchten wir jedenfalls noch einen halben Joint (ein halber Amsterdamer Joint war damals ungefähr so stark wie zweieinhalb Görlitzer-Park-Joints) und gingen dann, mit triefenden Lefzen, in einen Albert Heijn, ein spezifischer niederländischer Supermarkt, in dem es besonders viele Fertigprodukte gibt.
Dort deckten wir uns mit verschiedenen Lebensmitteln ein, die jenen, die auf den Stillleben abgebildet waren, besonders nahekamen. Wir gingen an der Tiefkühlware vorbei, und unser beider Blick fiel gleichzeitig auf die Aufschrift derselben Verpackung: »Tiger Prawns«.
Wir waren begeistert von der Doppelbedeutung des Begriffes Tiger Prawn, denn er bezeichnet sowohl eine besonders große Art von Garnelen als auch die klassische Tigertatze oder -pfote. »Du bist mein Tiger Prawn«, schrieben wir uns noch jahrelang per SMS, wenn die andere verreist war, oder: »Wir zwei Tiger Prawns«. »Wie geht es dir, mein Tiger Prawn?«, begrüßten wir uns manchmal morgens, als wir zwei Jahre später zusammenzogen, es war unsere erste Wohnung, nachdem wir bei unseren Eltern ausgezogen waren.
Dort wurde Tiger Prawn auch unser erstes WLAN-Passwort. Nach etwa sieben Jahren änderte meine Freundin in einem Sommer, den ich in den USA verbrachte, das Passwort. Als ich Ende August spätnachts zurückkam, wunderte ich mich, dass mein Telefon sich nicht mehr automatisch mit dem WLAN verband. Am nächsten Morgen verriet sie mir das neue Passwort: puredesire.
Das Kiffen habe ich mir kurz danach abgewöhnt. Es wurde, wie das meistens der Fall ist, durch eine andere Sucht ersetzt. Selbst Sobriety (Nüchternheit) fühlt sich an wie etwas, das süchtig macht – auch die Abwesenheit des Konsums ist eine Art des Konsums, so wie es einem ab und zu einen gewissen Appetit abverlangt, sehr wenig zu essen.
Ich ekelte mich irgendwann vor den Zuständen, in die man durchs Kiffen gerät – und vor mir selbst in diesen. Und Ekel kann ein treibendes Element bei der Überwindung von Süchten sein. Vor ein paar Tagen fragte ich meinen Freund P., ob er schon einmal eine Sucht überwunden habe. Er bestätigte meine These und sagte, er habe es bereits ein paar Mal erfolgreich bewerkstelligt, die eine Sucht durch eine andere zu ersetzen. Erst Computerspielen durch Kiffen, dann Kiffen durch jene, die bis heute andauert: Arbeit. Immerhin wird man für letztere bezahlt.
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