Corona-Winter dauert an

Das Gesundheitssystem Chinas wird nach der Abkehr von »Null Covid« auf eine harte Probe gestellt

  • Fabian Kretschmer
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Zhongshan-Krankenhaus in Shanghai zählt zu den renommiertesten Kliniken Chinas, über vier Millionen Patienten werden hier jährlich behandelt. Doch seit einigen Tagen herrscht in den Gängen der riesigen Notaufnahme ein anhaltender Ausnahmezustand: Hektisch transportiert das Pflegepersonal riesige Sauerstoffbehälter durch die Korridore, viele von ihnen verrichten ihre Arbeit trotz Covid-Symptomen. Die meist älteren Patienten liegen zu Dutzenden auf den Fluren, umrundet von besorgten Angehörigen. Einige der Kranken müssen gar bei einstelligen Temperaturen im Freien ausharren, wo sie ihre Infusionen verabreicht bekommen.

Knapp einen Monat nach der plötzlichen Abkehr von Chinas »Null Covid«-Strategie zeigt sich, dass der harsche Corona-Winter für das Land noch lange nicht vorbei ist. In nur wenigen Wochen haben sich mehrere Hundert Millionen Menschen in der Volksrepublik infiziert. Die meisten von ihnen sind zwar bereits wieder genesen, was in den Metropolen Peking und Shanghai wieder zu gut besuchten Einkaufszentren und Restaurants geführt hat. Doch weiterhin hält eine gesundheitspolitische Tragödie an, die wegen der systematischen Zensur für viele Chinesen im Verborgenen bleibt.

Hinter den Kulissen zeigt sich allerdings deutlich, wie wenig das chinesische Gesundheitssystem auf den Ansturm Infizierter vorbereitet ist. In den hastig errichteten Fieberkliniken des Landes beträgt die Wartezeit für eintreffende Patienten im besten Fall mehrere Stunden. In Peking berichteten Betroffene immer wieder, dass sie wegen des eklatanten Platzmangels ihre eigenen Betten mitbringen sollten. Und auch die Versorgung mit gängigen Fiebermedikamenten ist nach wie vor prekär: Auf dem Schwarzmarkt werden Mittel wie Ibuprofen für das Vielfache des Normalpreises gehandelt.

Die prekäre Lage betrifft derzeit die Ostküstenmetropolen, deren Gesundheitsversorgung durchaus an mit Südeuropa vergleichbare Standards heranreicht. Der größte Belastungstest bahnt sich hingegen in den chinesischen Hinterlandprovinzen an, wo die Krankenhäuser bereits zu Vorkrisenzeiten unterbesetzt waren und Ärzte oft nur rudimentär ausgebildet sind.

Spätestens Mitte Januar wird die Corona-Welle auch die hintersten Winkel des Landes erreichen. Zum traditionellen Neujahrsfest besuchen Millionen Chinesen ihre Familien in der Heimat. Was normalerweise ein Grund zur Freude wäre, bereitet den Behörden diesmal Kopfschmerzen: »Was uns am meisten Sorgen macht, ist, dass es drei Jahre her ist, seit die Menschen nach Hause reisen konnten, um dort den Jahreswechsel zu verbringen. Es könnte einen besonders großen Ansturm von Menschen aus den Städten aufs Land geben«, sagte kürzlich eine Vertreterin der Nationalen Gesundheitskommission im Staatsfernsehen.

Die Europäische Union, die auf einem Berg von bald ablaufenden Impfpräparaten sitzt, hat der chinesischen Regierung bereits kostenlose Lieferungen angeboten. Bislang steht eine Antwort von Peking aus. Das mag von außen betrachtet absurd wirken, doch das Zögern der Regierung kommt keineswegs überraschend: Bis jetzt hat der chinesische Staat keine ausländischen Impfstoffe für die eigene Bevölkerung zugelassen, obwohl die mRNA-Vakzine von Biontech und Moderna den heimischen Totimpfstoffen von Sinopharm und Sinovac überlegen sind. Es überwiegt ganz offensichtlich der patriotische Stolz, möglicherweise auch Bedenken hinsichtlich der nationalen Sicherheit: Man möchte sich nicht vom Westen abhängig machen.

Dort geht bereits die Angst um, dass die massive Corona-Welle in China eine weitere Virusmutation begünstigen könnte. Etliche Länder haben bereits verpflichtende PCR-Tests für Einreisende aus der Volksrepublik eingeführt, darunter Südkorea und Taiwan. Dass das Außenministerium in Peking eine »unwissenschaftliche« Diskriminierung wittert, wirkt grotesk: China selbst hat lange Zeit niemanden ins Land gelassen, der nicht mehrere Wochen Zwangsquarantäne, mehr als ein Dutzend PCR-Tests und mehrere Blutentnahmen über sich ergehen ließ.

Die einstige »Null Covid«-Bastion ist in wenigen Wochen zum weltweiten Corona-Hotspot geworden. Die Anzahl der Toten wird von den Behörden de facto unter Verschluss gehalten. Nachdem die nationale Gesundheitskommission zuletzt nur mehr schöngefärbte Daten veröffentlicht hatte, stellte sie die täglichen Updates jüngst vollständig ein.

In den Staatsmedien lassen die Zensoren immerhin mittlerweile eine gewisse Pluralität zu. »Wir müssen zugeben, dass die Zahl der Toten in China höher sein wird als in vorangegangenen Jahren«, so etwa Tong Zhaohui, Vizechef des Pekinger Chaoyang-Krankenhauses, gegenüber dem Fernsehsender CCTV. Doch wer konkrete Zahlen in Erfahrung bringen möchte, muss sich mit Schätzungen aus dem Ausland begnügen, die sich auf unvollständige Modellrechnungen stützen. Das Londoner Unternehmen Airfinity ging zunächst von 5000 Corona-Todesfällen pro Tag aus, ehe es den Richtwert vergangene Woche auf insgesamt 9000 Tote nach oben korrigierte. Internationale Medien berichten relativ konsistent, dass die Krematorien Pekings und Shanghais derzeit nahezu um das Zehnfache stärker ausgelastet seien zu Normalzeiten.

Wirtschaftlich sind zumindest die positiven Effekte der Corona-Öffnung absehbar, doch kurzfristig wird der Übergangsprozess auch in dieser Hinsicht schmerzhaft sein. Der Konjunkturindex »Caixin« ist im Monat Dezember ein weiteres Mal gesunken, auch der staatliche Einkaufsindex liegt derzeit auf dem niedrigsten Wert seit Februar 2020. Das bedeutet im Klartext: Die Wirtschaftstätigkeit der in China ansässigen Unternehmen ist Ende des Jahres signifikant geschrumpft.

Die rapide Corona-Welle könnte allerdings auch dazu führen, dass der Übergang zu so etwas wie einer postpandemischen Normalität vergleichsweise schnell erreicht wird. Bislang haben große Investmentbanken ihre Wachstumsprognosen für das Land immerhin leicht nach oben korrigiert: Goldman Sachs geht etwa für das Jahr 2023 statt von vormals 4,8 Prozent nun von 5,2 Prozent Wachstum aus. Verglichen mit dem Niveau, auf dem sich die Volksrepublik vor der Pandemie befand, ist dies jedoch weiterhin vergleichsweise niedrig.

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