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Fetisch unser: Wert und Werte

Der Begriff des Werts hat sich ausgehend vom ökonomischen Sektor in alle gesellschaftlichen Bereiche gebohrt

  • Franz Schandl
  • Lesedauer: 6 Min.

Für Werte sind wir alle. Ihnen ist einfach nicht zu entkommen. Welche, die keine haben, sollen welche bekommen, am besten natürlich unsere Werte, die da zu unser aller Freude strahlen in der liberalen Demokratie, nach der nichts Besseres mehr kommen kann und die schon das Gute ist. Gott ist bereits da und da er ein universeller Gott ist, ist er auch über die ganze Menschheit zu bringen. Fetisch unser. Ohne Wert und Werte kein Visum. Um also anerkannt zu werden, hat man vorab die Werte nicht nur anzuerkennen, sondern zu bekennen, ansonsten katapultiert sich eins in Out.

Werte haben auf jeden Fall nicht nur ausgerufen zu werden, sie haben auch angerufen zu werden. Der Westen zelebriert sie als planetarische Gebetsstunde. Von »unseren Werten« zu sprechen, gleicht einem metaphysischen Aufruf, dem wir allesamt zu huldigen haben. Kein westlicher Grundsatztext ist heute frei von diesem Sermon. Kam die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 noch ohne »Werte« aus, so haben in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2000 die »Werte« schon entscheidende Positionen erobert.

Auch das linke und aufklärerische Denken (inklusive Marxismus) steht für die Affirmation der Werte. Die sind allemal positiv besetzt, von Agnes Heller bis David Graeber, von David Mason bis Slavoj Žižek (um nur wenige zu nennen) sind fast alle in diesem Universum zu Hause und erweisen sich damit als treue Kopisten kapitalistischer Normen. Explizite Kritiker der Werte finden sich ganz selten. Auf zwei sei hier trotzdem verwiesen, auf Günther Anders und Ivan Illich. Anders setzte die »Werte« auf eine schwarze Liste: »In der Tat ist der barbarische Begriff, der aus der Finanzwirtschaft stammt, erst nach 1850 in die Philosophie und erst in den Zwanziger Jahren in die Trivialsprache eingedrungen«, schreibt er in seinen »Ketzereien« (1982). Und Illich sagt in einem Gespräch mit David Cayley, das 2005 veröffentlicht wurde: »Ich bin fest davon überzeugt (…), dass der Verlust der Umsonstigkeit einen Aspekt der Moderne bildet. Einer der tiefer liegenden Gründe dafür ist, dass die Philosophen seit der Aufklärung im Großen und Ganzen nicht mehr über Ethik und Moral als Suche nach dem Guten Sprechen, sondern zunehmend über Werte. (…) Werte stehen immer in Beziehung zu Effektivität und Effizienz, also zu einem Mittel, einem Werkzeug, einem Zweck.«

Tatsächlich legt der Singular offen, was der Plural verschweigt. Der Begriff des Werts hat sich ausgehend vom ökonomischen Sektor in alle gesellschaftlichen Bereiche gebohrt. Wert ist zu dem substanziellen Leitterminus geworden. Wenn etwas etwas wert ist, ist etwas etwas wert. Wert gilt als das Positivum sui generis. Wert ist eine in all seinen Verästelungen zu bejahende Assoziation, keine kritische Größe.

Der Wert setzt die Werte. Er ist auch die zentrale Instanz des Selbstwerts. Bürgerliches Selbstbewusstsein verläuft auf einer Skala der Ab- und Aufwertung am Markt. Das jeweilige Einkommen regelt die Zugangs- und Beteiligungsmöglichkeiten, die auch über Integration und Desintegration entscheiden: Was haben? Wo dabei sein? Wie viel dürfen? Was darstellen? Die Achtung der Menschen erfolgt nicht direkt, sondern über die jeweiligen Wertigkeiten am Markt. Akzeptiert wird, wer sich verwertet. Jeder Wer ein Was! Wer kein Was, ein Nichts! Das Selbstwertgefühl sinkt rapide, wird der Einzelne vom Kapital nicht anerkannt. Nicht nur Arbeitslose und Immigranten spüren das. Es ist zwar übel, wenn Menschen nichts wert sind, aber schlimmer noch ist, dass Menschen überhaupt etwas wert zu sein haben; dass eine ökonomische Abstraktion – der Wert – diese Gesellschaft beherrscht, Status und Rang der Mitglieder vorgibt und via Werte verfügen möchte, was wir wollen sollen.

Im Wert steckt auch alles, was uns so gespenstisch vertraut ist: die Konkurrenz, das Wachstum, das Ranking, die Leistung, das Eigentum und natürlich der jeweilige Preis selbst. Mit dem Wert und seinen geprägten Worten wird das Vokabular ökonomifiziert und unsere Vorstellungskraft in eine bestimmte Richtung kanalisiert. Wir lassen das nicht nur zu, es fällt gar nicht als Besonderheit auf. So zu sprechen erscheint uns als selbstverständlich. Wir haben keine andere Sprache. Man denke bloß an all die infizierten (und oft kaum substituierbaren) Vokabeln wie Wertschätzung, Wertschöpfung, Bewertung oder wertvoll. Und der Werteworte des Wertekanons werden mehr: Werteschulungen, Wertekatalog, Werteerziehung, Wertevermittlung, Werte-Patenschaften, vielleicht könnte man noch ein Wertekataster anlegen, wo Wertebüros mit Werteschablonen den Werteindex (Selbstverwertungskoeffizienten) aller gesellschaftlichen Mitglieder transparent machen könnten. Abfragbar und abrufbar.

Historisches als Gültiges, ja Endgültiges zu setzen, es als menschliche Natur zu propagieren, diese ontologische Hinterlist aller Herrschaftsformen beruht immer auf der sagenhaften Banalität, aus dem Spezifischen ein Allgemeines zu machen. Diese Hinterlist ist keine Heimtücke, sondern eine synthetische Leistung der Form selbst. Es geht darum, sich absolut zu setzen. Das Gewordene hat zu bleiben, nicht vergänglich zu werden. Dass es einmal gesetzt wurde, weil es sich durchgesetzt hat, hat niemanden anzugehen. Es hat einfach so zu sein, weil es so ist.

Leben heißt aber nicht bewerten, sondern fragen, analysieren, aussagen, schlussfolgern, wissen, erkennen, argumentieren. Werten reduziert das Denken auf das Berechnen. Das Bewerten ist schon eine sehr spezifische Form, keineswegs eine originäre und zentrale Leistung und schon gar nicht gebührt ihr Vorzug und Ausnahme. Da mögen Bewertungen heute noch so im Vordergrund stehen und unser Blickfeld stets kommerziell verengen und somit verstellen. Die Frage »Was ist?« oder »Warum ist es?« zieht keine automatische Bewertung nach sich, sondern eine umfassende Einschätzung. Bewerten ist eine ganz besondere Weise des Beurteilens, es geht dabei weniger um das Objekt als um die auf die Wertform bezogene Relation des Objekts zu anderen Objekten, denen allesamt als Waren ein Wert anheimgestellt wird. Es geht beim Bewerten nicht um die Sache selbst und auch nicht um ihre anderen vielfältigen Bezüglichkeiten, sondern diese wird gerankt und geratet anhand eines vorhandenen Maßes, das jede Qualität der Quantität unterordnet. Bewerten fungiert als Transmissionsriemen des Bezahlens.

Differenzen sind vorerst einmal qualitativ; zum Beispiel: Es schmeckt, es leuchtet, es läuft. Sätze wie »Es schmeckt besser, als es leuchtet« oder »Es leuchtet heller, als es läuft« sind zu Recht unsinnig, ja abstrus. Selbst die Frage, wie gut es schmeckt, wie hell es leuchtet, wie schnell es läuft, kommt erst hernach. Zweifellos, in der Marktwirtschaft herrscht regelrecht ein Bewertungswahn: Benoten Sie die Autoanmietung auf einer Skala von 1 bis 5. Alles und jedes hat auf Markttauglichkeit und Geschäftsfähigkeit getrimmt zu werden. Beim Tauschen und Kaufen geht es nicht um einen qualitativen Vergleich von Produkten, sondern um Notierung und Platzierung anhand der Werteskala. Diese Gleichsetzung lässt dann alles als Quantum von etwas grundlegend Gleichem erscheinen. Eine ausgemachte Differenz ist ja noch keine Wertung, sondern lediglich die Feststellung, dass das eine nicht das andere, sondern qualitativ verschieden ist. Doch den Wert interessiert das partout nicht, im Gegenteil, er will, weil muss, messen.

Werte sind das, was der Wert in Politik, Ideologie und Kultur anrichtet. Werte sind nicht verhandelbar, sie bestimmen vielmehr das Handeln und sie gelten als universalistisch. Was Werte nicht infrage stellen und auch nicht infrage stellen können, das ist der Wert selbst. Dass keine Werte haben ein Wert sein sollte, wäre ja zu Recht grotesk. Es geht aber auch nicht um eine Umwertung, sondern um eine Entwertung der Werte.

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