»Entkrustung« per Verarmung

Die rot-grün-gelbe Bundesregierung verabschiedete 2022 die größte Sozialstaatsreform seit der Agenda 2010. ALG II wird nun also zum Bürgergeld – und an der Gängelung der Armen hierzulande ändert sich nichts

  • Jan Benski und Marek Schauer
  • Lesedauer: 14 Min.
Bürgergeld – »Entkrustung« per Verarmung

Zu Beginn des Jahres war es soweit: Die ehemaligen Empfänger*innen des umgangssprachlich als Hartz IV bekannten Arbeitslosengelds II erhielten das um schmale 53 Euro erhöhte Bürgergeld. Die, laut Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren war trotz aller Widerstände und Zwänge zum Kompromiss doch noch Wirklichkeit geworden. Und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands konnte voller Stolz verkünden, dass sie damit die Ungerechtigkeiten der letzten größten und von der SPD selbst vorgenommenen Sozialstaatsreform ausgeräumt hätte. Was für ein Erfolg! Aber immer der Reihe nach.

Jobcenter Berlin-Mitte, Standort Wedding

Jedes Mal, wenn Heinrich Holtgreve das Jobcenter Wedding mit seiner Kamera besuchte, fand er ein neues spannendes Thema, das er fotografierte. Zunächst die Lagerräume für Büromaterialien, später die langen Flure und Wartebereiche mit ihren farbigen Fußbodenbelägen und gekachelten Wänden. Dann Sichtschutzwände, Sperr­bänder und Ampeln, mit denen die vielen hier ankommenden Menschen gelenkt werden, und schließlich die mit persönlichen Dingen eingerichteten Büros der Sachbearbeiter. Beim Fotografieren ließ sich Holtgreve durch die Räume treiben, baute sein Stativ auf, wann immer er einem Motiv begegnete.
Die Bildserie »Jobcenter Mitte« entstand 2016 für das Fotobuch »Berlin-Wedding« in Zusammenarbeit mit der Fotoagentur Ostkreuz.
Fotos von Heinrich Holtgreve/Ostkreuz

20 Jahre Agenda 2010

Kurz nach der Jahrtausendwende gab es in der damaligen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder ein klares Urteil über das deutsche Sozialsystem: Es leiste (sich) zu viel. Die Beweise dafür seien, dass es mehr koste als es einnehme und dabei zu viele »Elendsgestalten« produziere, die dauerhaft auf es angewiesen seien. Die Kosten des Sozialsystems würden zudem das Wachstum der Unternehmen einschränken, denn schließlich erhöhten sie als Lohnnebenkosten auch den Preis der Arbeit, das Arbeitgeberbrutto. Dies wiederum hindere die Unternehmen an ihrem vermeintlich sozialen Auftrag, nämlich Arbeitsplätze zu schaffen. Und daraus resultiere, so der Befund, eine »strukturell bedingte Sockelarbeitslosigkeit«, die es mit Reformen zu bekämpfen gelte.

Das Urteil verdeutlicht eine banale Wahrheit der Marktwirtschaft: Je mehr Leute arbeitslos sind, desto weniger zahlen in die Sozialversicherung ein und entsprechend sinkt die eingesammelte Geldsumme. Gleichzeitig wächst durch den Verlust des Jobs – der nun einmal für fast alle die einzige Einnahmequelle ist – die Menge der Bedürftigen. Diese Binsenweisheit kehrte die SPD damals zu der abgeschmackten Unwahrheit um, dass in den so steigenden Kosten für das »Soziale« der Grund der Krise zu finden sei. Aus der Tatsache, dass der Lohn der meisten Beschäftigten nicht ihren Bedarf zum Leben deckt, weil er in erster Linie Profitmittel der Unternehmen ist, wurde also die Lüge, dass ein empörend hoher Bedarf an sozialen Wohltaten wie einer Alters- oder Gesundheitsversorgung, die Löhne und damit »die Wirtschaft« unerträglich belaste.

Dieser Bedarf belegt aber erst, dass die Lohnabhängigen vor allem und zuerst die Leid- und Lastentragenden des kapitalistischen Geschäftsganges sind, erst recht in Krisenzeiten. Daher brauchen sie überhaupt einen Sozialstaat, der sie mittels Umverteilung aus der gesamten Lohnsumme der Gesellschaft überleben lässt. Der Staat organisiert eine Gesundheitsversorgung sowie die Alimentierung bei Arbeitslosigkeit und im Alter, die sie als Einzelne nie bewältigen könnten. Wie viele einzahlende Jobs es aber gibt, hängt davon ab, ob diese sich für die Unternehmen lohnen. Kommen diese zu dem Schluss, dass dem nicht so ist, führt das zu Schwankungen beim »hire and fire« und schlägt sich in sinkenden Beiträgen für die Sozialversicherungen nieder. Daher stehen die Sozialleistungen regelmäßig im Verdacht, zu viel, zu teuer oder überhaupt nicht mehr bezahlbar zu sein.

Aus diesen Diagnosen lassen sich leicht entsprechende Therapien ableiten. Im Falle der Schröder-Regierung mündete dies in ein nationales Verarmungsprogramm: Senkung des Rentenniveaus, Leistungseinsparungen und Zuzahlungserhöhungen bei Patient*innen und eben die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes sowie die Zusammenlegung der bisherigen Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe für Erwerbsfähige zum Arbeitslosengeld II (ALG II), in etwa auf dem damaligen Niveau der Sozialhilfe. Um Letzteres soll es hier genauer gehen.

Existenz am Minimum

Vor der Agenda 2010 war die Arbeitslosenhilfe, die auf das 24 bis 32 Monate gezahlte Arbeitslosengeld folgte, noch an die individuelle Erwerbsbiografie gekoppelt und bemaß sich der Höhe nach auf knapp 60 Prozent des letzten Nettolohnes. Die Höhe des Regelsatzes des ALG II orientierte sich nun direkt am »soziokulturellen« Existenzminimum, also dem, was statistisch und pauschal als zum Überleben notwendig befunden wurde. Wenn selbst der Lohn schon nicht dem Bedarf zum Leben entspricht, so kann dieses Existenzminimum erst recht nicht diesen Anspruch erfüllen. Die pauschalisierte Berechnung war (und ist) schließlich ein Experiment, mit wie wenig Geld die »Elendsgestalten« des Sozialgesetzbuches auskommen können.

Das neue Arbeitslosengeld (ALG I) wurde auf 60 bis 67 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns des letzten Jahres der Berufstätigkeit angepasst und nur noch sechs bis zwölf Monate, bei Älteren im Ausnahmefall 24 Monate, gewährt. Als ob die Einzelnen selbst entscheiden könnten, dass sie einen Arbeitsplatz finden oder behalten, galt nun die reine Dauer der Arbeitslosigkeit als Anlass zum Zweifeln, ob sie sich überhaupt noch als rentable Arbeitskräfte verkaufen können. Weil damit auch ihr Status als Einzahler*innen in die Sozialversicherungen auf dem Spiel stand, sollten sie auch nicht übermäßig Versicherungsleistungen in Anspruch nehmen.

Daher musste man nach dem Bezug von ALG I auch erst das eigene Angesparte bis auf geringe Freibeträge verbrauchen. Die Vermögensfreigrenzen wurden radikal begrenzt. Selbst die eigene Wohnung – die grundlegende Voraussetzung dafür, überhaupt morgens irgendwo auf- und dann eventuell auf der Matte zu stehen – wurde daraufhin überprüft, ob ihre Kosten der neuen prekären Lebenslage angemessen sind. Die Miet- und Heizkosten wurden gegebenenfalls nur noch teilweise übernommen, woraus für die Betroffenen oft Zahlungsrückstände bis hin zum Wohnungsverlust folgten.

Die Herabsetzung von menschlichen Existenzen auf ihr materielles Minimum war zwar bereits genug Abschreckung, aus dieser Lage wieder herauskommen zu wollen. Aber der Bezug von ALG II sah darüber hinaus Sanktionen und Kürzungen der Bezüge vor, etwa für versäumte Termine oder nicht ausreichende Eigenbemühungen. Diese geforderten Bemühungen wurden von den Bezieher*innen mit dem Jobcenter »gemeinsam« in einer Eingliederungsvereinbarung festgelegt. Wer sich nicht darauf einlassen wollte, erhielt die entsprechenden Vorgaben – zum Beispiel wie viele Stellenbewerbungen man monatlich nachweisen müsse – eben per Verwaltungsakt. Die Sanktionen sorgten dafür, dass auch beim Existenzminimum noch ein bisschen Luft nach unten blieb.

Im Grunde wurde so getan, als läge es einfach an den fehlenden Bemühungen der Arbeitssuchenden – auch jenen in wirtschaftsschwachen Gebieten wie etwa Vorpommern oder Bremerhaven –, dass sie keine Arbeit hätten. Dass es daran gar nicht lag, bewies der so reformierte Sozialstaat nicht zuletzt mit großzügigen Zuschüssen an durchaus auch windige Arbeitgeber und über eine neue »Aufstockung« des Lohns derjenigen, die davon ganz objektiv nicht leben konnten. Als es darum ging, die Gewinne der Unternehmen (auch über die Lohnzuschüsse) zu fördern, waren die Kosten also kein Problem.

Das zugrunde liegende Prinzip »Arbeit zuerst« wurde dabei radikal umgesetzt: Nicht nur mittels der Drangsalierung zu Bewerbungen, sondern auch durch ein den »echten« Arbeitsmarkt inszenierendes System abstruser Bewerbungstrainings, Maßnahmen zur Weiterbildung, die sich vor allem für die jeweiligen Anbieter lohnten, bis hin zu den »gemeinnützigen« Ein-Euro-Jobs. Wer schon keinen richtigen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt hatte, sollte wenigstens nicht vergessen, wie sich 40 Stunden Lohnarbeit die Woche anfühlen. Einerseits sollten so die notorisch Nichtgebrauchten das Leistungsprinzip nicht aus den Augen verlieren, dass man ohne Mühe zu nichts kommt. Andererseits diente diese Behandlung von Arbeitslosen zur Abschreckung und Disziplinierung der anderen.

So sehr den »Langzeitarbeitslosen« auch die strukturelle Krise des Arbeitsmarkts aufgebürdet und sie als Verhinderer des Aufschwungs behandelt wurden, die Maßnahmen zielten nicht ausschließlich auf sie. Alle übrigen Lohnabhängigen, die das Glück hatten noch »in Arbeit« zu sein oder sich um solche dann und wann erfolgreicher bemühten, wurden auf geringe Stundenlöhne und weitere Zumutungen vorbereitet. Denn besser als ein Leben auf Hartz IV sei Arbeit allemal – das sollte zweifelsfrei klargemacht werden, obwohl die neu geschaffene prekäre Arbeitswelt mit ihren Callcentern, Zeitarbeitsfirmen und entsprechend schlechten Arbeitsbedingungen auch keine rosige Alternative war.

Das volle Potenzial ausschöpfen

Nach 17 Jahren Hartz IV zieht eine sozialdemokratisch geführte Regierung nun erneut Bilanz: Die »Verkrustung« des Arbeitsmarkts sei erfolgreich aufgebrochen und die »Sockelarbeitslosigkeit« beseitigt. Der Druck des ALG II auf die Lohnabhängigen mit und ohne aktuelle Arbeitsstelle brachte für den Standort Deutschland, also die Unternehmen, den Erfolg. Die europäischen Nachbarn seien neidisch auf die boomende Wirtschaft, für die der deutsche Staat so umfangreich von den vielfältigen Möglichkeiten der Lohndrückerei Gebrauch machte, dass er sich bereits zur Einführung des Mindestlohns genötigt sah.

Insgesamt befand die Regierung, dass die Wirtschaft nun vor ganz anderen Herausforderungen steht als damals: nach Jahren der »Auflockerung« des Arbeitsmarktes und daraus folgendem Wachstum, trotz drei Jahren Coronakrise und einem halben Jahr Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Die neue Sozialstaatsreform folgt diesmal nicht der ausgemachten Krise des Sozialsystems und des Arbeitsmarkts, sondern dem selbstbewussten Ausblick, dass das Land und seine Bürger*innen ihr volles Potenzial noch nicht ausgeschöpft haben. Denn heute mangelt es an »Fachkräften« und denjenigen, die sich in der digitalisierten und flexiblen Arbeitswelt zurechtfinden. Gefordert sind also ganz andere Fähigkeiten als das Herumschlagen mit Gelegenheitsjobs. Der Wirtschaftsstandort Deutschland verlangt nach 17 Jahren erfolgreicher Verarmung und Drangsalierung der Beschäftigten nun nach Besserem. Und der Sozialstaat bemüht sich, das zu liefern.

Die Antwort auf diese Herausforderungen lautet Bürgergeld, mit dem das Prinzip »Arbeit zuerst« und der absolute Vorrang von Vermittlung in Arbeit durchbrochen wird. Qualifikation und Berufsausbildung sollen mehr Zeit gelassen werden. Wer sich für die neuen Anforderungen des Arbeitsmarktes fit macht und beispielsweise einen Berufsabschluss nachholt, soll dafür sogar mit einer kleinen Weiterbildungsprämie belohnt werden. Damit radikale Verarmung oder die Sorge um Verlust der Wohnung jene Motivation zur Fortbildung nicht schmälert, wird in einer Karenzzeit von 12 Monaten unerhebliches Vermögen nicht angerechnet und in dieser Zeit werden auch die Wohnungskosten in vollem Umfang übernommen. Sanktionen gibt es aber weiterhin – nur in geringerem Maße und von kürzerer Dauer – und die Eingliederungsvereinbarung soll ab dem Juli 2023 in »Kooperationsplan« umbenannt werden.

Ändern tut sich damit eigentlich wenig, vor allem nicht, dass der Staat die Bestandsaufnahme über seine Wirtschaft und sein Volk macht – wobei letzteres so zugerichtet werden muss, wie es ersterer nützlich ist. Dieses Mal wird eben versucht, Leute zu »Fachkräften« oder wenigstens etwas zu qualifizieren, weil so noch mehr aus ihnen herauszuholen ist und der Schritt zurück zur Prekarisierung bleibt bei Bedarf natürlich möglich.

Elend bei 53 Euro mehr

Auch an dem Elend, welches das Sozialgesetzbuch II festschreibt, ändert sich durch die Erhöhung der Hartz IV-Regelsätze nichts, zumal angesichts der aktuellen Preissteigerungen. Dazu passt, dass die Vorschrift im SGB II, die auf verschiedene weitere Gesetze und Verordnungen zur Ermittlung des »Regelbedarfs zur Sicherung des Lebensunterhalts« verweist, nur eine andere Überschrift bekommen hat: Nun steht dort nicht mehr »Arbeitslosengeld II und Sozialgeld«, sondern schlicht Bürgergeld. In den genannten weiteren Vorschriften ist zu erfahren, dass zum Beispiel eine alleinstehende Person nicht mehr nur 449 Euro bekommt, sondern 502 Euro, also satte 53 Euro mehr.

Da schon ein Lohn nicht am wirklichen Bedarf der Lohnempfänger*in ausgerichtet ist, kann es die Kalkulation des Regelbedarfs erst recht nicht sein. Dass bei den Verhandlungen der Ampelkoalition mit der CDU immer wieder das Wort Abstandsgebot fiel, stellt klar, dass die Höhe der berechneten Bedarfe noch unterhalb des Warenkorbes liegt, den man sich von einem Mindestlohn leisten kann. Die Wendung »Sicherung des Lebensunterhalts« ist schon ernst zu nehmen: Der Regelsatz reicht gerade so zum Überleben. Dennoch sind auch durch Hartz IV begründete Todesfälle keine Ausnahmefälle; Untersuchungen über den Zusammenhang etwa von Arbeitslosigkeit und Suizid liegen bereits vor. Ein Experiment des Staates mit der Frage, wie viel die Betroffenen damit haushalten können, bleibt dies allemal – und etwaige armutsbedingte Kriminalität beseitigen dann Justiz und Gefängnis.

Das Vermögen der Bürgergeldempfänger*innen – soweit eines vorhanden ist, versteht sich – regelt weiterhin der Paragraf 12 des SGB II. Hier wurden bisher Freibeträge vom vorhandenen Vermögen eingeräumt, in Abhängigkeit insbesondere vom Lebensalter der Betroffenen. Die Ansage lautete: Wenn Du dich in deinem Job für irgendein Unternehmen ordentlich abgerackert und dabei sogar Jahr für Jahr etwas zurückgelegt hast, darfst du einen kleinen Teil davon behalten. So mussten zumindest einige der lästigen Armen nicht ständig für ihre Notlagen und eine neue Waschmaschine mit einem Mehrbedarfsantrag um die Ecke kommen.

Als Konsequenz dieser Regelung enstand allerdings der »Volkssport Sozialbetrug«, so der Jargon der Richter*innen in den Amtsgerichten. Viele Betroffene gaben etwa alte Bausparverträge oder Wertpapierdepots mit vierstelligen oder kleineren fünfstelligen Summen einfach nicht an, was für die sparsam bezuschusste Bürokratie des Jobcenters einen kaum zu bewältigenden Aufwand bedeutete und die Justiz belastete: Abfragen bei den Finanzämtern, die zunächst nur ergeben, dass irgendwo Kapitalertragssteuer abgeführt wurde, aber nichts über die Höhe des Vermögens aussagen, dann Nachfragen bei den Bezieher*innen, die wiederum angeben, das Geld gehöre der Oma, sei also lediglich auf den eigenen Namen angelegt etc. pp. – diese Vorgänge waren schlicht nicht flächendeckend durchführbar.

Und so ordnet der neue Paragraf 12 nach Korrektur durch die CDU nun eine Schonfrist an: »Für die Berücksichtigung von Vermögen gilt eine Karenzzeit von einem Jahr ab Beginn des Monats, für den erstmals Leistungen nach diesem Buch bezogen werden. Innerhalb dieser Karenzzeit wird Vermögen nur berücksichtigt, wenn es erheblich ist.« Nach drei Jahren ohne Bezug von Bürgergeld beginnt diese Karenzzeit neu. Was ein erhebliches Vermögen ist, bestimmt Absatz IV der Vorschrift, nämlich 40 000 Euro bei Alleinstehenden zuzüglich 15 000 Euro bei jeder weiteren Person in der »Bedarfsgemeinschaft«. Darüber hinaus vorhandenes Geld muss wie gehabt vor dem Bürgergeldbezug verbraucht werden; nach der Karenzzeit beträgt der Freibetrag 15 000 Euro pro Person.

Was sich mit der Reform der Vorschrift weitgehend erledigt hat, ist die permanente Fahndung nach Sozialbetrügern durch Jobcenter und Justiz – zumindest bei Erstbezieher*innen von Bürgergeld, die allerdings daran erinnert werden, möglichst bald aus der sozialen Hängematte wieder auszusteigen, bevor ihr Vermögen angetastet wird. Diese »Großzügigkeit« deutet auch darauf hin, dass die deutsche Regierung mit weiteren Wirtschaftskrisen und begleitender Armut rechnet und deshalb den Apparat schon einmal für die Neuankömmlinge im Bürgergeld entlastet. Der begleitende Slogan »Mehr Sicherheit, mehr Respekt für Lebensleistung« ist ebenso ulkig wie ernstzunehmen: Lebensleistung wird hierzulande anerkannt, wenn man als Lohnempfänger*in zwar ein gutes, aber eben kein zu gutes menschliches Sparschwein ist.

Aber Obacht! Das gilt nur, solange man sich für den »Arbeitgeber« krumm machen kann. Die »Wertschätzung« bei der Grundsicherung im Alter, dem Pendant zum Bürgergeld für diejenigen, die nicht mehr arbeiten können und bei denen die Rente nicht reicht, ist deutlich reduziert: Ihnen erlaubt das SGB XII einen Vermögensfreibetrag von lediglich 10 000 Euro – egal, was die Betroffenen durch ihre Lebensleistung gespart haben. Lästige Armut durch das Bürgergeld wird eben nur getoppt von lästiger Altersarmut.

Die Überlegungen zur Karenzzeit gelten auch für den reformierten Paragrafen 22 im SGB II. Hier wurden bisher die Kosten der Unterkunft geregelt, also zumeist die Mietzahlungen, die man den Armen im Land zugestanden hat. Wie »teuer« Arme wohnen dürfen, das konnten die Kommunen nicht schnell genug regeln, weshalb diese Regelungen immer wieder Gegenstand von sozialgerichtlichen Streitigkeiten waren. An deren Ende standen gar nicht selten Erfolge der Hartz-IV-Empfänger*innen, die zumindest die Sätze des Wohngeldrechts bekamen – und damit meist mehr, als die Kommunen ihnen zugestehen wollten. Doch auch hier die Warnung: Das waren keine freundlichen Geschenke der Sozialgerichtsbarkeit, sondern diese monierte lediglich eine Intransparenz der Berechnung der Kommunen.

Mit anderen Worten, hätte der Staat die Angemessenheit der Wohnkosten bei ALG-II-Bezug von Profis kleinrechnen lassen, wäre auch dies für die Justiz kein Problem gewesen. Mit der Bürgergeld-Reform gilt nun auch die Karenzzeit wie oben beschrieben bei »zu teuren« Wohnungen. Wer ins Bürgergeld rutscht, bekommt im ersten Jahr die Miete vollständig bezahlt, unabhängig von deren Angemessenheit, die die Kommunen bestimmen. Was keiner sagt: Das war in der Praxis vorher schon so. Die sogenannten Kostensenkungsaufforderungen kamen meist nicht sofort bei Erstbezug von Hartz IV und gewährten dann noch einen Zeitraum von sechs Monaten bis zur Mietsenkung; dann war man da oft (je nach Fahndungswillen des Jobcenters) bereits über dem Jahr »Karenzzeit« – es gab nur den Begriff noch nicht. Jedenfalls gilt auch hier: Geh schnell wieder raus aus dem Bürgergeldbezug, sonst wird deine Wohnung zum Existenzrisiko!

Mithilfe verschiedener Instrumente, die zumeist erst ab Anfang Juli 2023 in Kraft treten, streitet das Bürgergeld also dafür, dass die Betroffenen zurück in die (nach ihnen verlangende) Ökonomie streben – mit oder ohne Aus- oder Weiterbildung. Die Anreize dafür schafft das SGB II, indem es die Freibeträge im Fall von »Aufstocker*innen« erhöht; die Ablehnung von Arbeitsgelegenheiten hingegen wird nach wie vor sanktioniert. Wer noch keine Ausbildung hat oder eine Weiterbildung anstrebt, dem wird das Angebot eines Bonus oder Weiterbildungsgeldes in den Paragrafen 16 ff. des SGB II gemacht und so dem aktuellen Fachkräftemangel der Unternehmen nachgekommen. Die Unternehmen, die mit dem Mindestlohn schon gut leben können, freuen sich angesichts dieser Bedingungen sicher schon auf noch bereitwilligere Arbeitskräfte. Damit soll nun die erfolgreiche Benutzung auch der letzten Arbeitslosen gelingen – aber eben nur, solange die sich das gefallen lassen.

Dieser Artikel ist Teil III einer Reihe über den Sozialstaat. Die Teil I und II befassen sich mit dem Prinzip der »Solidargemeinschaft« und der Krankenversicherung und finden sich online unter:
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165507.sozialstaat-die-solidargemeinschaft-der-kirchenmaeuse.html?sstr=benski
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1163388.deutsches-sozialsystem-der-sozialstaat-so-gut-wie-sein-ruf.html?sstr=benski

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