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  • Performance »Fleshdance«

Tutto con carne

Das Performance-Kollektiv »boikott« hat das Thema Fleisch in allen seinen menschlichen und tierischen Aspekten bearbeitet

  • Ella Mae Hengst
  • Lesedauer: 7 Min.
Fleisch an Fleisch gab es während des »Fleshdance« auch zu sehen.
Fleisch an Fleisch gab es während des »Fleshdance« auch zu sehen.

Mein Fleisch ist dein Fleisch, ist ihr Fleisch, ist Tierfleisch. Eines steht fest: Fleisch ist Körper und Körper ist ein strukturierter Zustand der Zeit. Davon geht der 2017 von Sophie Krause und Robin Plenio gegründete Produktionszusammenschluss »boikott« aus. Aber weil da noch so viele andere Fragen sind, machten sich »boikott« im Sommer letzten Jahres für ein recht langes Weilchen auf die Suche nach Antworten. Auf die Suche nach dem Ticket für einen Trip durch Fleisch und Körper. Dabei bereisen sie zwölf in Ost- und Westeuropa liegende Länder, wo sie elf Fleisch-Insider interviewen. Die Protagonist*innen sind unter anderem Personen aus der Kirche, Pornoindustrie, Nahrungsmittelindustrie, ja sogar aus der Kannibalismus-Fetisch-Szene. Aus dieser Tour durch die riesige Fleischtheke Europa ist ein 80-minütiges Performance-Stück mit dem erstklassigen Namen »Fleshdance« entstanden, welches vom 13. bis 15. Januar im Ballhaus Ost erstmals gezeigt wurde. Ich war dort und habe viele Fragen und Eindrücke aus dieser dokumentarischen Performance-Reise heimgebracht. Zum Beispiel: Was passiert mit dem Körper, wenn einem nach der Geburt empfohlen wird, ihn vom sogenannten Geist determinieren zu lassen, ihn in Einklang mit einer Seele zu bringen? Was ist, wenn er sich plötzlich mächtig anfühlt, erhitzt oder erstarrt?

Aber alles der Reihe nach: »Fleshdance« beginnt mit einer Zaubershow. Auf der Bühne befinden sich drei Personen: Sophie Krause, Robin Plenio und Terrance Xavier Johnson. Zwei Zaubertricks lassen ein Stück Fleisch und eine Münze verschwinden. Drei Menschen lassen Luftballons zischen. Groteske Störgeräusche erklingen und ich erhasche zwei Synthies, einer links, einer rechts der Bühne. Bei »Fleshdance«, das mit ziemlich vielen Medienformen ausgestattet ist, stehen besonders Musik und Video im Vordergrund. Intellektuell wird es auch schon schnell kitzelig, weil die drei Performer*innen dem norwegischen Bioethiker Jan Helge Solbakk die Leinwand für einen stockenden Monolog über Imperialismus, Klimawandel und die Fragilität der menschlichen Spezies zur Verfügung stellen. Das aber nur so halbwegs, da Terrance Johnson den Monolog mit- beziehungsweise überspricht. Ein erster Anreiz, über Macht zu sinnieren, die in unserem Fleisch sowie über unser Fleisch und unser Sein herrscht. Eine Menge aufeinandergestapelte Fernseh-Bildschirme, auf denen nach und nach die interviewten Körperexpert*innen erscheinen, leuchten auf.

Im ersten Teil der Performance bemerke ich plötzlich, dass ich gar keine Ahnung habe, wie ich mich und mein Fleisch in Relation zur Umwelt setze. Die Mailänder Autorin und Kuratorin Erica Petrillo spricht über die antiquierte und romantisierte Vorstellung des Menschen, der sich durch den eigenen Fleischkonsum in seine ersehnte Natürlichkeit zurückbegibt. Wie eine Art Ritual: Mein Fleisch isst Tierfleisch. Mein Fleisch ist Tierfleisch. Zurück zu den Wurzeln, zurück zur Natur. Diesen Glauben gibt’s schon lange und er hält bis heute an. Nicht nur ich fange spätestens bei dem darauffolgenden Interview mit einem passionierten deutschen Jäger an, mich zu fragen, ob das bei mir auch so ist. Ist die Fleischeslust, die ich manchmal auf glasierte Rippchen habe, eigentlich nur eine innerbetriebliche Aufforderung, wieder zu meiner ursprünglichen, organischen Wesensart zurückzukehren? 

Das Leitwort der ersten Etappe von »Fleshdance« heißt: Macht. Der Mensch ist vielleicht nicht mächtig genug, sein Fleisch mit ins Paradies nehmen zu können, aber hat nach wie vor Macht und die Möglichkeit, die Welt zu retten. Der alleinige Organismus kommt einem vielleicht mickrig vor, doch die globale, organische Intelligenz, die unsere Existenzen gemeinsam bilden, könnte viel häufiger Superwoman spielen, als sie es tut. »Das ist genau die Macht, die uns einzigartig macht, die wir zugunsten der Erde und der Biodiversität nutzen sollten«, sagt Jan Helge Solbakk. Es folgt ein wichtiger thematischer Umschwung.

Norbert Denef, ein älterer Herr, der tänzelnde Übungen mit einem Plastikreifen am Strand macht, erzählt von seinem Leben. Denef war den größten Teil seiner Jugend über Opfer von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche. Ein signifikanter Teil des Stücks spiegelt den Wandel von Macht zu Machtmissbrauch und erzählt von Fleisch, das instrumentalisiert und misshandelt wurde. In Bezug auf Tiere und Menschen. Im Hinblick auf die katholische Kirche ist es wichtig zu wissen, dass kein einziger des sexuellen und geistigen Missbrauchs beschuldigter deutscher Priester oder Bischoff bis jetzt aus seinem Amt zurückgetreten ist.

Auf den Bildschirmen tanzt Norbert Denef nun den Strand entlang, während die drei Performer*innen anfangen, Papiere zu falten und schließlich zu schreddern. Das geht so eine Weile. Es stellt sich heraus, dass auf diesen Papieren 50 unveröffentlichte Namen von Tätern der katholischen Kirche stehen, die »boikott« sich voriges Jahr verschaffen konnten. Diese Namen werden zu Schnipseln, die Schnipsel werden zu Papierknäueln, und mit diesen veranstalten die Performer*innen eine Schlacht untereinander bis sie letztendlich auch das Publikum bewerfen. Sophie Krause, eine der performenden Personen, merkt vor der Schnipselschlacht aber noch an, wie unsicher das Team im Hinblick auf den Umgang mit den Namen der Täter war. 

Diese Unsicherheit ist nachvollziehbar, aber ich empfinde die Entscheidung, die Papiere mit den Täternamen zu schreddern, als verkehrt. Es sorgt zwar für einen aufwühlenden Nachklang im Publikum und gibt ein schönes Bild ab, doch erinnert es mich auch an die sogenannte »Operation Konfetti« im Zusammenhang mit dem NSU. Kurz nachdem die Zwickauer Terrorzelle bekannt geworden war, wurden für die Aufarbeitung möglicherweise relevante Akten vom Bundesamt vom Verfassungsschutz geschreddert. Bis heute sind die Gründe hierfür nicht geklärt – Kritiker*innen vermuten, dass der Verfassungsschutz die Hinterfragung seiner eigenen Rolle im Fall NSU damit unterbinden wollte. Vielleicht wollten »boikott« genau diese Assoziation mit der »Operation Konfetti« in den Körpern und Köpfen der Zuschauer*innen entfachen. Dennoch finde ich, dass die einfache Zerstörung der Namen im Hinblick auf die Missbrauchsgeschichten die falsche Herangehensweise war.

Gut, dass jetzt eine sehr amüsante Parodie einer Predigt folgt, illustriert mit einer Jumbo-Portion Oblaten und Sangria aus Menstruationstassen. Ein Drum-and-Base-Beat leitet schließlich zum nächsten großen Thema über: Lust und Erotik. »Anonym« hat Lust auf Mädchenschenkel. Zu sehen sind Ausschnitte eines Chats mit jemandem, der einen Fetisch für Kannibalismus hat, zu welchem »boikott« über Monate Vertrauen aufgebaut haben, sodass sie die Chatverläufe für ihre Performance benutzen durften. »Anonym« erzählt von Massagen, die Fleisch saftiger und genüsslicher machen, von eingeölten und gewürzten Frauen, die angeblich leckerer als Männer seien. Wortwörtlich ist das ziemlich harte Kost. Die Inhaber*innen der feministischen Porno-Produktionsfirma Arthouse Vienna wollen das aber nicht verurteilen. Ihrer Meinung nach hat Erotik nichts mit Äußerlichkeiten oder Normen zu tun, sondern findet in uns statt. In unserem Fleisch schlummert Erotik. Der Lust-Aspekt in dieser ganzen Fleisch-Geschichte hinterließ Fragen in mir wie: Ist unser Fleisch (und unser Geist) gewaltresistenter geworden? Und warum ist der weiblich gelesene Körper immer entweder heilig oder billig?

»Weiblich gelesen kommt das Böse auf die Welt«, stellt Maria 2.0 fest, eine in Münster ansässige Vereinigung zur Reformation der katholischen Kirche. Welch ein Hammer-Satz! Maria 2.0 bezeichnet sich als »Graswurzler*innen«, die sich selbst durch das, was sie tun, immerwährend verändern. Sie sprechen sich hier während des Fleisch-Abends unter anderem für das Recht auf Abtreibung und gegen die Darstellung eines weißen Jesus aus.

Auch wenn mich die im Stück vorgeführten Aspekte der enormen Geschlechterungerechtigkeit in Pornoindustrie, Kirche und Erde mal wieder aufs Neue entsetzen, bin ich nun recht zuversichtlich. Das Ende ist nah. Und die Zukunft ist es auch. Der letzte Teilaspekt von »Fleshdance« widmet sich wie erhofft der Zukunft. Unser aller Zukunft und der Randnotiz, das der Bioreaktor von Performer Terrance Johnson die Farben Lila und Grün tragen und Eichhörnchenfleisch züchten würde. Wirklich großartig wird der Schluss noch mit von Sophie Krause verfasster Prosa drapiert, die widerspenstig und politisch bis zum Schlussapplaus auf allen Monitoren flackert. Krause wirft einen aufmerksamen und realpolitischen Blick in Richtung der Zukunft unserer Erde.

Mir bleibt zu sagen, dass mich diese im positiven Sinne reizüberflutende, multimediale und rebellische Reise durch meinen Körper, den Körpern aller Protagonist*innen und jedes Stückchen Fleisch der Welt wirklich beeindruckt hat.

»Fleshdance«. Mit: Sophie Krause, Robin Plenio und Terrance Xavier Johnson. Die Gruppe »boikott« ist dabei, weitere Spieltermine in Deutschland zu organisieren.

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