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- »Iwanow« am Berliner Ensemble
Jeder redet, wie es ihm gefällt
Workshop für Anfänger und Zyniker: »Iwanow« am Berliner Ensemble
Manchmal muss man sich beim Schreiben einer Kritik beeilen, bevor man vergisst, worüber es zu schreiben gilt. Als hätte man sich vorm Schlafen noch mal schnell durch 200 Fernsehkanäle gezappt und weiß dann morgens beim Aufwachen von nichts mehr. Es macht Krach, rauscht und flimmert vorbei – und ist dann einfach weg. War also ziemlich umsonst, dieser Aufwand an Arbeit für die Schauspieler, das Geld, das so was kostet, und die Lebenszeit des Zuschauers, der hier drei Stunden verliert.
Und das bei Tschechow, berühmt für sein »Talent zum Menschen«? Nein, im Berliner Ensemble wird gar nicht Tschechows »Iwanow« gespielt, sondern »frei nach Tschechow«. (Das gab es am Haus gerade erst mit Gerhart Hauptmanns »Einsame Menschen«, die dann gar nicht von Hauptmann waren.) Sollte man von einem Etikettenschwindel sprechen? Jedenfalls mag sich die litauisch-amerikanische Regisseurin Yana Ross nicht lange mit dem Tschechow-Text aufhalten, sondern wählt die Abkürzung. Sie sucht nach heutigen Motiven, die so oder ähnlich auch in Tschechows Bühnenerstling »Iwanow« von 1887 vorkommen.
In einem Interview erläutert Ross ihre Arbeitsmethode: »Es gab lange vor Probenbeginn einen Workshop mit den Schauspieler:innen, worin wir erarbeitet haben, was die Tschechow-Themen für uns heute bedeuten. … Manche Tschechow-Szenen blieben dabei relativ stark erkennbar, manche fielen raus, neue kamen hinzu.« Manches blieb »relativ stark erkennbar«?
Statt einer Regie (von Dramaturgie gar nicht zu reden) gab es also einen »Workshop«, der diverse Themen zusammensammelte: Einsamkeit, Entscheidungsunfähigkeit, Rassismus, Generationskonflikte, Instagram-Accounts samt an- und abwesenden Followern, Angst, Sinnlosigkeit, Schmerz. Hat alles irgendwie mit Tschechow zu tun. Oder auch nicht. Das wird dann weiter in einem Stuhlkreis auf der Bühne erörtert, auch wieder eine Art Workshop: »Jeder sage ein Trigger-Wort, das er an diesem Abend nicht mehr hören möchte«, so lautet das hier von der 21-jährigen »woken« Sascha vorgegebene Spiel-Thema.
Worum geht es in »Iwanow«, dem von Tschechow geschriebenen Stück? Um den in der russischen Provinz lebenden Gutsbesitzer Nikolai Alexandrowitsch Iwanow, Mitglied der Behörde für Bauernangelegenheiten. Seine Aufgabe erfüllt er schlecht; er ist zögerlich und leidet unter seiner Ehe mit der todkranken Anna Petrowna, die ihn liebt. Aber er nicht sie. Es heißt, er habe sie allein ihres Geldes wegen geheiratet, das sie dann doch nicht mit in die Ehe brachte. Eine Fehlinvestition also. Nun ist er verschuldet und dreht sich immer nur im Kreis – um sich selbst.
Liest man Tschechows Brief vom 10. Oktober 1887, in dem er sich über »Iwanow« äußert, erkennt man ihn selbst in dieser Figur: »Ich leide und blase Trübsal wie ein Hypochonder. Die Feder fällt mir aus der Hand, und ich arbeite überhaupt nicht mehr. In allernächster Zukunft erwarte ich den Bankrott. Wenn mich das Stück nicht rettet, gehe ich in der Blüte meiner Jahre zugrunde.« 1000 Rubel könnte ihm die Aufführung von »Iwanow« im Idealfall bringen, so Tschechow. Aber solche Kalkulationen, erfährt er bald, sind müßig. »Iwanow« wurde dann von ihm mehrfach umgearbeitet, und er schuf so – zusammen mit »Platonow« – den tragikomischen Typus des entscheidungsunfähigen, passiven russischen Intellektuellen, mit dem er sich bis in seine späteren Meisterwerke befasste.
Russische Bauern und Gutsherren geht gar nicht, das ist von gestern. Den Rahmen hier bildet ein Zitat von David Foster Wallace, den Schmerz betreffend. Hummer lebend ins heiße Wasser zu werfen, um sie zu kochen, was ist das? Sadistisch oder funktional? Moralisch inkorrekt oder bloßes Gerede von notorischen »Gutmenschen«, die sich nicht mal mehr ein nichtveganes Essen zu kochen vermögen? Der Schmerz anderer, so hören wir, verschließe sich uns. Das kommt dann gleich doppelt – am Anfang und am Ende auch, ist also wohl als Quintessenz dieser Inszenierung gemeint.
Am Anfang befinden wir uns im Tennis-Club, für Yana Ross ein Symbol für die heutige Mittelschicht, die mehr scheinen als sein will. Man palavert, lamentiert, intrigiert – bedient sich am Espresso-Automaten, bewirft sich ausgiebig mit Tennisbällen. Derweil kreist die Drehbühne so ausdauernd, als müsse sie uns unablässig ihre Funktionsfähigkeit beweisen. Beats dröhnen, man tanzt, mal wild, mal geriatrisch, beschimpft sich unaufhörlich in dieser grotesken Wartegemeinschaft. Spielerische Intensität, ein bezwingender Ausdruck entsteht so nicht. Kein Wunder, wenn jeder so redet, wie es ihm gefällt.
Derweil vergeht die Zeit. Das Drama verfehlter Nähe wird hier nicht gespielt, nicht einmal als Komödie. Es stellt sich dringlich die Frage: Will Theater überhaupt noch Stücke spielen, oder nimmt sie diese nur zum Anlass für beliebige Improvisation, Performance?
Peter Moltzen ist Iwanow, der hier jedoch Nicolas heißt. Er agiert eher ausrechenbar einspurig, als lohne es den Energieaufwand nicht, verschiedene Ebenen sichtbar zu machen. Der Widerspruch, in dem er gefangen ist, so ohne Hoffnung und angewidert vom Selbstekel, dabei doch auf Veränderung drängend, kommt gar nicht vor. Stattdessen flüchtet sich Moltzen in die Karikatur, und seine Mitspieler folgen ihm darin sämtlich mehr oder weniger.
Constanze Becker spielt seine sterbende und ungeliebte Frau Sarah (Anna Petrowna). Sie immerhin bietet Ansätze von Tiefe, zeigt einen inneren Kampf, der jedoch keinen Gegenpart findet. Wie schade, hat man Constanze Becker – wie auch Veit Schubert als Schabelski, der hier Matthias heißt – doch so oft schon komplizierte Charaktere eindrucksvoll entwickeln sehen. Aber das ist in dieser Inszenierung eben nicht gefragt. Zum Trost bekommt sie zwei Gesangs-Solos zur selbst gespielten E-Gitarre.
Dann ist Sarah tot. Auf der Trauerfeier stößt Iwanow mit der Urne auf dem Sofatisch so ungebremst jovial an, dass der Schnaps aus dem Glas schwappt. Er heiratet nun die junge Sascha (Amelie Willberg), die sich unerklärlicherweise heftig in ihn verliebt hat. Doch wieder schwankt er dabei gleich einem Blatt im Winde zwischen Ja und Nein. Nicht untypisch für Intellektuelle aller Zeiten und Gegenden, die sich dem ideologischen Entweder-oder verweigern. Aber auch dieser Interpretationsansatz wird nicht aufgenommen.
Hier nun spätestens kippt die im ersten Teil zumindest routiniert gearbeitete Inszenierung gänzlich ins Peinliche. Jetzt sehen wir grellen Boulevard wie in einer schlechten »Pension Schöller«. Man brüllt, rennt, schlägt um sich, sodass man am liebsten selbst den Vorhang vorziehen würde.
Nächste Vorstellungen: 7.2., 8.2.
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