- Berlin
- NS-Massenmord an Sinti und Roma
Zuhören und weitertragen
Kinder erarbeiten Theaterstück in Erinnerung an den NS-Massenmord an Sinti und Roma in Marzahn
Etwa 15 Schüler*innen in schwarzer Kleidung betreten die improvisierte Bühne im Speisesaal der Grundschule am Wilhelmsberg im Lichtenberger Ortsteil Alt-Hohenschönhausen. Sichtbar aufgeregt tragen sie die ersten Sätze des selbst erarbeiteten Theaterstücks vor, während ihnen knapp 100 Mitschüler*innen zuschauen. War es zuvor noch laut und wuselig im vollen Saal, wird es nun still. Das bedächtige Zusehen der Kinder ist dem Inhalt des Stückes angemessen: Es verarbeitet den NS-Massenmord an 500 000 Sinti*zze und Rom*nja, von denen Tausende im Zwangslager Marzahn gefangengehalten und schließlich in Auschwitz getötet wurden. Die Sechstklässler*innen führen es am Dienstag anlässlich des Jahrestags der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 auf.
»Es ist wichtig, dass wir daran denken, was für schlimme Zeiten es hier gegeben hat und immer wieder geben kann«, so die Schulleiterin Jana Reiter zu ihren Schüler*innen. Da es bald keine Zeitzeug*innen mehr geben könnte, sei es umso wichtiger, dass sich gerade die Jüngsten die Geschichte erzählen lassen und weitertragen, sagt Reiter.
Die Sechstklässler*innen der Grundschule am Wilhelmsberg haben im Vorfeld der Aufführung in der Gedenkstätte des Zwangslagers Marzahn von dieser schlimme Vergangenheit erfahren. Petra Rosenberg, Vorsitzende der Gedenkstätte und des Landesverbandes für deutsche Sinti und Roma, hat dort mit den Kindern auch über ihre eigene Familiengeschichte gesprochen. »Mein Vater war neun Jahre alt, als er in das Zwangslager Marzahn getrieben wurde. Er hat als Einziger von elf Geschwistern überlebt«, so Rosenberg, die an der Gedenkveranstaltung in Alt-Hohenschönhausen teilnimmt. »Das ist nicht irgendwo mal gewesen vor einigen Jahren, das ist noch ganz dicht bei uns und es kann jeden Tag wieder geschehen«, sagt sie.
Die Kinder auf der Bühne stellen in ihrem etwa 20-minütigen Stück das furchtbare Schicksal von Sinti*zze und Rom*nja in Berlin in großer Eindrücklichkeit dar. »Wir sind Sinti, wir sind Roma, wir sind Christen, wir sind Berliner, wir sind Deutsche, wir sind Kinder«, sagen sie zu den Schauspielern der nationalsozialistischen Beamten, die sie zur Deportation holen. Erfolglos, denn diese berufen sich auf ihre Befehle und verschleppen sie trotz ihrer Zugehörigkeitsbeteuerungen. Auch die Ermordung in den Gaskammern spart das Stück nicht aus: Die Kinder liegen letztendlich reglos auf dem Boden. Während eine graue Wolke aus Pappe über die Bühne fliegt, verabreden sich die dargestellten Nazi-Mörder zum Feierabend in der Kneipe.
»500 000 Sinti und Roma fielen dem NS-Massenmord zum Opfer. Wir trauern heute um unsere Angehörigen«, sagt Petra Rosenberg auf der Bühne mit den auf dem Boden liegenden Kindern im Rücken. Zum Abschluss des Theaterstücks werden sie von einer Engelsfigur aus weißem Tüll besucht und erheben sich.
Auch die Vizepräsidentin des Bundestags, Petra Pau, schaut sich das Theaterstück an, das die Schüler*innen schon in der vergangenen Woche während einer Gedenkveranstaltung im Abgeordnetenhaus aufgeführt haben. »Ihr setzt euch ganz ernsthaft mit der deutschen Geschichte auseinander«, sagt Linke-Politikerin Pau. Das sei sehr wichtig, denn auch heute noch seien Ausgrenzung und Hass allgegenwärtig und das müsse in jungen Jahren schon aufgehalten werden. Von dem Theaterstück zeigt sich Pau so berührt, dass sie ankündigt, dieses auch am 27. Januar zum Thema zu machen, wenn sie zum Anlass der Auschwitz-Befreiung eine Rede am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas im Tiergarten halten wird.
»Ich hatte Tränen in den Augen«, sagt Petra Rosenberg nach der Aufführung zu »nd«. Sie sei sehr beeindruckt von den jungen Menschen, die gezeigt haben, was den Berliner Sinti*zze und Rom*nja während des Nationalsozialismus angetan wurde. Rosenberg kennt die Elf- und Zwölfjährigen schon von deren Besuch in der Gedenkstätte in Marzahn, wo sie der NS-Vergangenheit mit Offenheit, Ehrlichkeit und Wissbegierde begegnet seien. »Das gibt mir Hoffnung für die Zukunft«, sagt Rosenberg. Der Weg über das Theater sei eine gelungene Form der Wissensvermittlung, findet sie. »Die politische Bildung junger Menschen ist mir die wichtigste und die liebste Arbeit«, so Rosenberg. In der Gedenkstätte gebe es daher viele Führungen für Schulklassen und auch einiges an Arbeitsmaterialien für die Altersgruppe.
Die Schüler*innen zeigen sich ebenso beeindruckt von der Gedenkstättenvorsitzenden wie andersherum. »Von Petra Rosenberg haben wir mehr gelernt als im Unterricht«, sagt Kinga, eine der Schauspieler*innen des Theaterstücks, zu »nd«. Auch ihre Mitschülerin Lilly hebt die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit positiv hervor. »Das war sehr spannend, aber natürlich auch sehr traurig und verstörend«, sagt sie. Sechstklässler Felix findet es wichtig, zu zeigen, was damals geschehen ist. Kurz fehlen ihm die Worte, um über den NS-Massenmord zu sprechen, dann sagt er: »Es ist etwas ganz Schreckliches passiert, und das darf nicht vergessen werden.«
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