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Großrechner und »grüne Chemie«

In Deutschland sind in den kommenden Jahren milliardenschwere Investitionen in neue Forschungsinfrastrukturen geplant

  • Manfred Ronzheimer
  • Lesedauer: 7 Min.
Supercomputer »Juwels« am Forschungszentrum Jülich erhält mit »Jupiter« einen noch leistungsfähigeren Nachfolger.
Supercomputer »Juwels« am Forschungszentrum Jülich erhält mit »Jupiter« einen noch leistungsfähigeren Nachfolger.

Was Großforschung vermag, spielt sich derzeit weit über unseren Köpfen ab. Aus den Tiefen des Alls funkt das im letzten Jahr gestartete James Webb Space Telescope Sternenbilder zur Erde, die die Astronomen in Begeisterung versetzen und auch Laien faszinieren können. Die Aufnahmen von farbigen Gasnebeln und rotierenden Galaxien in einzigartiger Schärfe werden in den kommenden Monaten geballt verbreitet werden: im Rahmen des neuen Wisssenschaftsjahres »Unser Universum«, das am Donnerstag dieser Woche im »Futurium«, dem Berliner Haus der Zukünfte, von Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger eröffnet wurde.

Das 8,8 Milliarden Euro teure Weltraumteleskop – entwickelt von der US-amerikanischen Weltraumorganisation Nasa, zusammen mit Partnereinrichtungen aus Europa (Esa) und Kanada – ist ein Beispiel für den Typus von Forschung, für die die individuelle Gelehrtenkammer und auch das universitäre Experimentallabor zu klein geworden ist. Für bestimmte Dimensionen der wissenschaftlichen Welterkundung braucht es große, teils riesige Maschinen, um der Zusammensetzung von Atomen oder eben dem Ursprung des Kosmos auf die Spur zu kommen. Von »Forschungsinfrastrukturen« ist die Rede, wenn einzelne Institute und sogar Länder die Untersuchungen nicht mehr alleine bewältigen, sondern nur im gemeinsamen Verbund zu Ergebnissen vordringen können.

Zu den bekanntesten Einrichtungen der Großforschung zählt der »Large Hadron Collider«, ein gigantischer ringförmiger Teilchenbeschleuniger mit 27 Kilometer Umfang, der sich in etwa 100 Meter Tiefe im Grenzgebiet der Schweiz und Frankreichs nahe Genf befindet. Betrieben von der Europäischen Organisation für Kernforschung Cern (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) werden in der »Urknallmaschine« atomare Teilchen aufeinander geschossen, um die Prozesse zu verstehen, die beim richtigen »Urknall«, der noch immer rätselhaften Entstehung des Universums, auf die Spur zu kommen. Vor knapp zehn Jahren, 2012, wurde dabei ein neues Elementarteilchen, das »Higgs-Boson« entdeckt. Das Jahresbudget von Cern, an dem rund 14 000 Gastwissenschaftler aus 85 Nationen arbeiten, beträgt über eine Milliarde Euro im Jahr.

Großforschung ist staatlich finanziert

Weil Großforschung teuer ist, spielt in der Regel der Staat eine wichtige Rolle. In Deutschland sind die wichtigsten Einrichtungen dieser Gewichtsklasse in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren zusammengeschlossen: 18 Zentren mit knapp 44 000 Mitarbeitern und einem Budget von über 5,8 Milliarden Euro jährlich, das zu 90 Prozent aus dem Bundesforschungsministerium kommt; den Rest tragen die Sitzländer. Vor der Namensgebung 1994 trug Helmholtz die Bezeichnung »Arbeitsgemeinschaft Deutscher Großforschungszentren« (AGF). Größte Standorte sind Karlsruhe und Jülich, wo in den Fünfzigerjahren zwei Kernforschungszentren zur zivilen Nutzung der Atomkraft gegründet wurden. Diese Forschungseinrichtungen wurden inzwischen allerdings aufgegeben.

Der Standort Jülich profiliert sich heute immer stärker im Bereich des Supercomputing. Vor wenigen Wochen fiel die Entscheidung zur Beschaffung des ersten europäischen »Exascale«-Supercomputers mit dem Namen »Jupiter«. Exascale ist die Bezeichnung für Rechner, die eine Trillion Rechenoperationen pro Sekunde ausführen können. Die 500 Millionen Euro-Investition, finanziert aus dem EU-Haushalt, wird nach Angaben des Forschungszentrums in der Lage sein, »die Entwicklung hochpräziser Modelle von komplexen Systemen zu ermöglichen und der Lösung wichtiger gesellschaftlicher Fragen, etwa zum Klimawandel, zu Pandemien und zur nachhaltigen Energieerzeugung zu dienen«. Gleichzeitig wird der Superrechner der nächsten Generation die intensive Nutzung Künstlicher Intelligenz unterstützen und die Analyse großer Datenmengen ermöglichen.

Forschungszentren statt Braunkohle

Inzwischen haben auch andere Beweggründe Einfluss auf die Großforschung in Deutschland genommen. Im Zuge des Strukturwandels in den drei Braunkohleregionen wurden durch den »Kohlekompromiss« 40 Milliarden Euro von Bundesseite zur Verfügung gestellt. Daraus soll unter anderem eine neue wissenschaftliche Infrastruktur aufgebaut werden, die eine ökologische Transformation der Regionen begleiten soll. Neben einer Reihe kleinerer Institute, die derzeit aufgebaut werden, so ein Forschungsinstitut für Geothermie der Fraunhofer-Gesellschaft in Cottbus, sind auch zwei neue Großforschungseinrichtungen in Ostdeutschland in der Planung. Die spannungsgeladene Entscheidung über Themen und Standorte der milliardenschweren Wissenschaftsinvestments fiel im vorigen Herbst. Die Einrichtungen erhalten jeweils 1,2 Milliarden Euro aus dem Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen (StStG). Neben einem Zentrum für Chemie-Transformation, das nach Sachsen-Anhalt kommt, fiel die Wahl der wissenschaftlichen Expertenjury in der Endrunde von sechs Kandidaten auf das Konzept für ein »Deutsches Zentrum für Astrophysik« (DZA), das im sächsischen Görlitz errichtet wird. Hauptaufgabe des DZA ist es, die riesigen Datenströme zukünftiger Großteleskope gebündelt zu verarbeiten.

Es soll als nationales Zentrum für astrophysikalische Forschung, Technologieentwicklung und Digitalisierung neue Technologien der Himmelsbeobachtung entwickeln und vor allem die Nutzung der Beobachtungsdaten verbessern. Mit den neuen Generationen von Teleskopen nehmen die Datenmengen rasant zu. So wird das neue »square kilometre array« (SKA), das derzeit in Südafrika und Australien errichtet wird, mehr Daten produzieren als vor wenigen Jahren noch das gesamte Internet weltweit. Diese Datenströme zu beherrschen wird eine der wesentlichen Thematiken des DZA sein. Damit einher geht auch das Thema »green computing«, ist doch die IT bereits heute für mehr als zehn Prozent des Stromverbrauchs weltweit verantwortlich. Am DZA sollen über 350 wissenschaftliche, 350 technische und 200 administrative Stellen sowie 100 Ausbildungsplätze entstehen. Geplant ist auch ein »Low Seismic Lab«, ein Untergrundlabor, das 200 Meter tief in den Lausitzer Granit eingebettet wird. Welcher Forschungsorganisation das DZA zugeordnet wird, ist noch nicht entschieden.

Chemie für die »Kreislaufwirtschaft«

Im Ansatz weitergehend ist das zweite Großforschungszentrum, das im traditionellen Chemie-Dreieck Leuna-Bitterfeld-Wolfen unter der Bezeichnung »Center for the Transformation of Chemistry (CTC)« entstehen soll. Statt reine Grundforschung zu betreiben wie die Astrophysiker in Sachsen, will das CTC zugleich die praktische Anwendung der Forschungsergebnisse integrieren und zu schnellen Schritten in Richtung einer »grünen Chemie« gelangen. Im Fokus steht der Umbau der bisherigen Chemieindustrie mit ihren für Mensch und Umwelt gefährlichen Endprodukten und Abfällen hin zu einer »Kreislaufwirtschaft«, in der Reststoffe die Basis für neue Verarbeitungsprozesse bilden. Stoffliche Grundlage bilden nicht mehr fossile Rohstoffe wie Erdöl und Erdgas, sondern nachwachsende Rohstoffe, wie sie etwa bei der Produktion von Bioenergie bereits zum Einsatz kommen.

Das CTC will eine breite Palette von Rohstoffquellen für eine Vielzahl von Produkten und Industriezweigen in ihren chemischen Grundlagen erforschen und ihre Nutzung in verschiedenen Anwendungsbereichen (Gesundheit, Energie, Düngemittel, Konsumgüter) vorbereiten. »Der Technologietransfer durch Ausgründungen, Ansiedlungen in der Region, Lizenzierung geistigen Eigentums und gemeinsamen Forschungsprojekten mit der Wirtschaft ist mit erfolgversprechenden Konzepten gut geplant«, würdigte die Jury das Konzept des neuen Chemieinstituts, das von einem Team um den Berliner Max-Planck-Wissenschaftler Peter Seeberger vom Institut für Kolloidchemie erarbeitet wurde.

Netzwerke für die Datenauswertung

Im Digitalzeitalter brauchen neue Forschungsinfrastrukturen allerdings nicht mehr große Gebäude, die massive Maschinen und viele Menschen beherbergen. Hier stehen Netzwerke im Mittelpunkt, die eine verteilte Kooperation in der Wissenschaft ermöglichen. Eine erfolgreiche Innovation in diesem Bereich ist die Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI), die eine Art Datenrecycling betreibt. Grundlage sind thematische Konsortien, zu denen sich in den letzten vier Jahren deutsche Universitäten, Forschungsinstitute, Bibliotheken und Rechenzentren zusammengeschlossen haben. Jeweils zu einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin und mit nationaler Reichweite. Ihre Mission: die in ihrem Fach in der Vergangenheit angefallenen Forschungsdaten aus der Vielzahl von Projekten zu sammeln und besser sichtbar zu machen. Mit neuen Software-Tools sollen die Daten auch miteinander kombiniert werden (»Interoperabilität«) und letztlich über eine Zweitnutzung auch zusätzliche Forschungserkenntnisse bewirken. Das Recyclingprinzip hält Einzug in den Forschungsprozess.

Für Aufbau und Förderung der NFDI stellen Bund und Länder von 2019 bis 2028 jährlich bis zu 90 Mio. Euro im Endausbau bereit, hiervon bringt der Bund 90 Prozent auf, zehn Prozent der Kosten tragen die Länder. Im November wurde mit der Auswahl von neun weiteren Konsortien der vorläufige Endzustand der Forschungsinfrastruktur erreicht. Aufgenommen wurden auf Vorschlag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unter anderem Verbünde für die Agrosystemforschung, für Mikroskopie und Bildanalyse, für Immunologie und für historisch arbeitende Geisteswissenschaften.

In unterschiedlicher Weise schaffen sich die Wissenschaftler Untersuchungsinstrumente, um zu neuen Erkenntnissen vorzustoßen. »Big Science« ist dafür ein Weg, auf dem etwa weitblickende Teleskope in den Himmel geschickt werden. Neue Wissensinfrastrukturen erschließen für das gleiche Ziel den virtuellen Raum. In beiden Fällen geht es um die Verknüpfung von Technologien mit menschlicher Kreativität. Wird auch zumeist die Produktion von Grundlagenwissen im Vordergrund stehen – sollten sich daraus Anwendungseffekte für Gesellschaft und Wirtschaft ergeben: umso besser.

Das kürzlich erschienene Buch »Für die Zukunft des deutschen Volkes« der Münchener Wissenschaftshistoriker Thomas Raithel und Niels Weise stellt dar, wie in den 50er Jahren, als die junge Bundesrepublik am internationalen Hype um die Kernkraft (»atoms for peace«) teilhaben wollte, ein eigenes Ministerium, das Bundesministerium für Atomfragen, unter Leitung von Franz-Josef Strauß gegründet wurde. Erst Jahre später, mit erweitertem Aufgabenspektrum, entstand daraus das »Bundesministerium für Forschung und Technologie«. Das Atom triggerte sozusagen die (west-)deutsche Forschungspolitik.

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