Kapitol-Moment in Mecklenburg

Protest gegen Flüchtlingsheim: 700 aufgebrachte Bürger belagerten Kreistagssitzung in Grevesmühlen

Es waren Szenen, die jenen vor zwei Jahren im US-Kapitol ähnelten: Wütende Bürger versuchen ein Gebäude zu stürmen, in dem Abgeordnete tagen. Zwar war die Zahl der Eindringlinge am vergangenen Donnerstagabend in Grevesmühlen im Landkreis Nordwestmecklenburg wesentlich kleiner als am 6. Januar 2021 in Washington, und es gelang ihnen nicht, sich Zutritt zu dem Gebäude zu verschaffen, in dem eine Kreistagssitzung stattfanden. Doch in ihrer Mentalität dürften manche der Wütenden den Anhängern von Ex-US-Präsident Donald Trump ähneln.

In Grevesmühlen waren die Protestierenden vor allem Bürger aus der nahen Gemeinde Upahl, die aus zwölf kleinen Dörfern mit insgesamt 1600 Einwohnern besteht – aber offenbar auch organisierte Neonazis aus der Region. Anlass der Versammlung: Im Gewerbezentrum Upahl soll eine Containerunterkunft für bis zu 400 Geflüchtete errichtet werden. Der Kreistag stimmte am Donnerstagabend in einer Dringlichkeitssitzung für den Neubau – mit knapper Mehrheit. Die Unterkunft soll schon im März bezugsfertig sein. Dann will der Kreis dort Menschen eine Bleibe zuweisen, die derzeit in Sporthallen in Wismar untergebracht sind.

Mit Trillerpfeifen, Megafon und Pyrotechnik machten in Grevesmühlen laut Polizei bis zu 700 Personen ihrem Unmut Luft. Beobachter der linken Recherchegruppe AST Westmecklenburg berichteten im Kurznachrichtendienst Twitter, mindestens ein Viertel der Teilnehmer seien organisierte Rechtsradikale gewesen. Die Polizei konnte nur mit einem Großaufgebot verhindern, dass sich die Menge Zutritt zum Sitzungsort verschaffte. Sie hatte ihre Einsatzkräfte kurzfristig von 60 auf 120 erhöht, um die Lage unter Kontrolle halten zu können.

Die Polizei berichtete am Freitag, viele Demonstranten seien zwar der »bürgerlichen Mitte« zuzurechnen gewesen. Doch auch Rechtsextreme sowie Angehörige der Fußballfan- und der Reichsbürgerszene hätten sich beteiligt. Die Rechtsradikalen haben laut Polizei maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Stimmung vor dem Sitzungsort immer weiter aufheizte. Laut NDR waren bekannte ehemalige NPD-Kader aus dem nahen Jamel beim Protest in Grevesmühlen zugegen. Jamel ist bundesweit als Neonazi-Hochburg bekannt.

CDU-Landrat Tino Schomann betonte am Freitag: »Ich habe auch großes Verständnis für die Sorgen und Ängste der Einwohnerinnen und Einwohner von Upahl. Und wir werden alles tun, um diese zu lindern und entstehende Problemlagen mit der temporären Unterkunft zu lösen.« Der Bau der Unterkunft sei eine Notlösung, weil dem Landkreis immer weiter Geflüchtete zugewiesen würden. »Ich bin seit Monaten dabei, das Land und den Bund auf die Zuspitzung der Lage hinzuweisen, und ich bin längst nicht der Einzige«, erklärte Schomann. In den ARD-»Tagesthemen« führte er die Forderungen dann aus: »Der Bund muss begrenzen und steuern, muss die illegale Migration stoppen und muss die Abschiebeoffensive endlich starten, um auch Kapazitäten freiwerden zu lassen.«

Auch Björn Griese, der für die Linke im Kreistag sitzt, kann die Bedenken nachvollziehen: »Für ein Dorf mit gut 500 Einwohnern ist das schon ein schwieriges Verhältnis. Zumal, wenn man bedenkt, dass es dort kaum eine Infrastruktur gibt und der Weg in die nächste größere Stadt weit ist.« Zudem sei die Entscheidung des Landratsamtes auch für die Kreistagsmitglieder sehr kurzfristig gekommen. »Wir konnten nur noch über die Finanzierung abstimmen. Das war alles keine Sternstunde für die Demokratie«, meinte Griese.

Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Christian Pegel (SPD) betonte, dass Meinungs- und Demonstrationsfreiheit zentrale Grundrechte einer Demokratie seien, verurteilte aber die Übergriffe in Grevesmühlen. Dass bekannte Rechtsradikale versuchten, solche Veranstaltungen zu okkupieren, sei nicht hinnehmbar. Pegel kündigte eine strafrechtliche Aufarbeitung der Vorgänge an. Vier Strafverfahren wurden nach seinen Angaben bereits eingeleitet, unter anderem wegen schweren Hausfriedensbruchs und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz.

Das Internationale Auschwitz-Komitee reagierte ebenfalls auf den Tumult am Vorabend des internationalen Holocaust-Gedenktages. »Die gestrige Demonstration in Grevesmühlen belegt einmal mehr, wie derzeit Rechtsextreme versuchen, zum Hass aufzurufen und die Demokratie zu attackieren«, sagte der Exekutiv-Vizepräsident des Komitees, Christoph Heubner. Die Bilder erinnerten ihn an die versuchte Erstürmung des Reichstagsgebäudes in Berlin im August 2020 oder den Angriff auf das Kapitol in Washington.

In den letzten Wochen flammen vielerorts Mecklenburg-Vorpommern Proteste gegen Geflüchtetenunterkünfte und gegen die Anwesenheit Asylsuchender auf. Und tatsächlich gibt es ernstzunehmende Probleme: In vielen Kommunen sind die Unterbringungskapazitäten insbesondere nach dem Zuzug vieler Ukrainer*innen erschöpft, Wohnungen sind insgesamt zur Mangelware geworden. Daher sollen an mehreren Orten Containerunterkünfte errichtet werden.

Und offenbar wird die Stimmung mancherorts gezielt von rechts angeheizt. So eskalierte am Mittwochabend ein von der Stadt Loitz im Landkreis Vorpommern-Greifswald im Nordosten des Bundeslandes ausgerichteter Bürgerdialog. Zu der Veranstaltung hatten Vertreter von Stadt und Landkreis in Reaktion auf einen offenen Brief von Bürgern eingeladen, in dem ein Stopp der Aufnahme Geflüchteter und andere Maßnahmen zum Schutz der Bewohner gefordert wurde.

Doch ein Dialog war kaum möglich, einige der mehr als 200 Besucher brüllten Diskutanten immer wieder nieder, was eine Aufzeichnung des NDR zeigt. Es gab rassistische Beleidigungen und Drohungen mit Selbstjustiz, in einem NDR-Beitrag waren mehrere Besucher mit Kennzeichen rechtsradikaler Organisationen auf ihrer Kleidung zu sehen, darunter jenen der »Arischen Bruderschaft«. In der Kleinstadt mit 4200 Einwohnern sind derzeit 33 männliche Asylbewerber in einer ehemaligen Grundschule untergebracht, in den nächsten Tagen sollen insgesamt 35 weitere hinzukommen. In den letzten Tagen hatte es in dem Ort Aufregung um einen vermeintlichen Übergriff auf eine Elfjährige durch einen Fremden gegeben.

Am Freitagnachmittag stellte die Polizei indes klar, dass sich das Kind den Vorfall ausgedacht hatte. Dies habe eine erneute Befragung des Mädchens ergeben, nachdem sich nach Anhörung zahlreicher Zeugen Unstimmigkeiten ergeben hätten. In der vergangenen Woche hatte die Mutter der Polizei gemeldet, ein unbekannter Mann habe ihre Tochter vor einem Supermarkt am Arm gepackt und versucht, sie mitzuziehen.

Angesichts der Vorfälle in Loitz bleibt abzuwarten, ob eine Dialogveranstaltung, die Landrat Schomann für den 3. Februar in Grevesmühlen angekündigt hat, für eine Entspannung der Lage in Upahl wird sorgen können.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.